Asyl-Prozess am Trierer Verwaltungsgericht Fluchtursache: Sex vor der Ehe

Trier · Das Trierer Verwaltungsgericht hat noch Tausende Asylklagen abzuarbeiten. Und immer geht es um Einzelschicksale. In einem Fall hatte ein junger Mann außerehelichen Geschlechtsverkehr, der einen Mord nach sich zog. Ein Blick in den Gerichtsalltag.

 Eine Demonstrantin protestiert am Frankfurter Flughafen gegen die geplante Abschiebung von Flüchtlingen.

Eine Demonstrantin protestiert am Frankfurter Flughafen gegen die geplante Abschiebung von Flüchtlingen.

Foto: dpa/Susann Prautsch

Mit seinem Vater hatte er in der Provinz Farah in einem Ziegeleibetrieb gearbeitet. Eine wüstenartige Provinz im äußersten Westen Afghanistans, die Wikipedia zufolge geschichtlich noch völlig unerforscht ist. 80 Prozent der Menschen, die dort leben, sind Paschtunen, deren Leben stark von einem orthodox muslimischen Ehrenkodex namens Paschtunwali bestimmt wird.

Nun sitzt er in einem nüchternen Trierer Gerichtssaal und blickt die Richterin, die über seine Zukunft entscheiden wird, scheu an. Ein gepflegter junger Mann, knapp über 20, große dunkle Augen, feine Gesichtszüge, perfekt frisiertes kurzes Haar, Jeans, T-Shirt – und soll erzählen, was ihn dazu gebracht hat, im Jahr 2015 um den halben Erdball zu reisen, seine Familie, sein Land, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen, um nach Deutschland zu kommen.

Und während er erzählt, wird die Richterin versuchen herauszufinden, ob er lügt oder die Wahrheit sagt, ob seine Geschichte zu jener passt, die er 2017 erzählte, als er seinen Asylantrag stellte, ob er sich in Widersprüche verwickelt – oder ob alles plausibel ist. Es ist eine Verhandlung, wie es am Trierer Verwaltungsgericht Tausende gibt. Eine Verhandlung, die exemplarisch zeigt, warum die vielen längst eingereichten Asylklagen nicht von einem auf den anderen Tag abgehandelt werden können: Es ist aufwendig, die Schicksale einzelner Menschen unter die Lupe zu nehmen. Zumal meist ein Dolmetscher benötigt wird, der alles, was gesagt wird, übersetzt.

Auch in diesem Fall ist ein Dolmetscher dabei, obwohl der Kläger in den vergangenen Jahren gelernt hat, sich in einfachem Deutsch zu verständigen. In seinen Praktika als Automechaniker, Elektriker oder Maler. In einer Leiharbeitsfirma, für die er im Lager arbeitet. Oder womöglich im privaten Umfeld, das er sich aufgebaut hat, seit er 2015 einreiste.

Die Geschichte, die er vor dem Trierer Verwaltungsgericht erzählt, ist folgende. Mit 17, noch während der Schulzeit, habe er sich in ein paschtunisches Mädchen verliebt. Ihr Vater gehöre zu den mächtigsten Männern im Dorf und unterhalte enge Beziehungen zu den Taliban. Zwei Mal hätten seine Eltern, die zu einer anderen Volksgruppe gehören, für ihn um die Hand des Mädchens angehalten. Doch habe der Vater sich geweigert, seine Tochter mit ihm zu vermählen.

Trotzdem führten die beiden eine Beziehung, die bis zu einem – glaubt man ihm – höchst dramatischen Tag unentdeckt blieb. Gegen Abend habe seine Freundin ihn angerufen. „Sie hat gesagt, ich soll zu ihr nach Hause kommen“, erzählt der junge Mann. „Da bin ich zu ihr rüber gegangen. Wir waren gerade dabei, miteinander zu schlafen, als ...“, sagt er – woraufhin die Richterin ihn unterbricht. „Sie müssen mir das genauer erklären. Was haben Sie genau gemacht?“, fragt sie – wohl, um zu überprüfen, wie realistisch seine Beschreibung ist. Und so erzählt er befangen, wie die Begegnung mit Küssen und Umarmungen begann, ehe die beiden intimer wurden. „Und plötzlich kam ihre Tante rein.“

Immer wieder hakt die Juristin nach, erfährt, dass die beiden jungen Leute schon öfter Sex hatten, dass die Tante in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte  und auch, wie er flüchtete, weil er ahnte, dass die Tante sofort den Vater des Mädchens verständigen würde. Seine Freundin habe ihn kurz darauf angerufen und ihm geraten, sein Leben zu retten und zu fliehen. Das tat er dann auch. „Ich musste schnell handeln.“

Noch in der Nacht reiste er mit dem Bus in die nächste größere Stadt und von dort weiter in den Iran. Wie er später von seiner Familie erfahren habe, ermordete der Vater seine Freundin und sitzt deswegen nun im Gefängnis. Aus Angst vor den Brüdern und Cousins des Mädchens könne er nicht in sein Heimatland  zurückkehren.

Seine Familie habe das Dorf nach Drohungen und Angriffen verlassen müssen.

„Aber warum haben Sie Ihre Freundin nicht mitgenommen? Sie war ja auch in Gefahr“, will die Richterin wissen. „Ich war nicht in der Lage, ihr zu helfen. Wenn ich mich um sie gekümmert hätte, wäre mein Leben umso mehr in Gefahr gewesen“, antwortet er.

Ob die Richterin ihm glaubt? Erst zwei Wochen später wird der junge Mann es erfahren. Zunächst verliest die Juristin mit Doppelpunkten und Kommata 20 Minuten lang minutiös alles, was er zu Protokoll gegeben hat. Der Dolmetscher übersetzt. Der junge Afghane nickt. Der Name des ermordeten Mädchens fällt kein einziges Mal.

Inzwischen sind Wochen vergangen. Und es steht fest: Der Afghane darf vorerst bleiben. Seine Klage hatte Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat ihm das Recht auf „subsidiären Schutz“ zugesprochen. Dieser Schutz greift dann, wenn Menschen, die nicht politisch verfolgt werden, im Herkunftsland dennoch ernsthafter Schaden droht. Und die Richterin ist zu dem Schluss gekommen, dass das bei ihm der Fall ist. Er habe glaubhaft dargelegt, dass ihm wegen des außerehelichen sexuellen Verhältnisses Übergriffe der paschtunischen Familie drohen. Wegen der strikten Moralvorstellungen müsse er in Afghanistan mit schweren Repressalien bis hin zum Ehrenmord rechnen, teilt das Gericht mit.

Seine Aufenthaltserlaubnis gilt nun für ein Jahr, bei Verlängerung jeweils zwei weitere Jahre. Auch darf der erfolgreiche Kläger arbeiten gehen und sich nach fünf Jahren in Deutschland niederlassen.

Ein Fall weniger. Rund 5500 weitere warten darauf, vom Gericht bearbeitet zu werden. 5500 Menschen, 5500 Schicksale, 5500 Lebensgeschichten, die es zu überprüfen gilt.

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