Essay zum Tod von Königin Elizabeth II. Die Letzte einer Ära: Elizabeth II. und die Kunst, sich selbst zurückzunehmen

Mit Queen Elizabeth endet auch die Ära, als Promis noch diskret sein durften.

Königin Elizabeth II. ist auf Titelblättern zahlreicher Zeitungen abgebildet.

Königin Elizabeth II. ist auf Titelblättern zahlreicher Zeitungen abgebildet.

Foto: dpa/Jon Super

Als sie im Februar 1952 gekrönt wurde, besaß das Vereinigte Königreich noch zahlreiche Kolonien in Afrika. Putin war noch nicht geboren, dafür lebte und herrschte Stalin. Wer telefonieren wollte, den leitete das „Fräulein vom Amt“ von Hand zum gewünschten Gesprächspartner weiter. Es gab keinen Rock’n’Roll, keine Europäische Union und schon gar nicht solche neumodischen Sachen wie Farbfernseher und Kassettenrekorder. Die „Swinging Sixties“ lagen noch in weiter Ferne, und „sexuelle Revolution“ hätte man nicht mal auszusprechen gewagt, geschweige denn sie angezettelt.

Elisabeth II. ist damals 25 Jahre jung, doch alt genug, um zu wissen, was von ihr als Königin erwartet wird. Und was nicht. Regieren gehört nicht zu ihren Aufgaben. Seit der Magna Carta, jener Urkunde aus dem Jahr 1215, die die Rechte des Adels gegenüber dem König verbriefte, hatte dieser in Schüben seine Macht verloren. Seit dem 19. Jahrhundert war er de facto zum Grüßaugust degradiert, der die Kolonien bereiste und öffentliche Reden hielt. Eine davon sollte legendär werden: Es war Elizabeths Vater, König Georg VI., der 1939 in einer BBC-Rundfunkansprache die britische Nation auf den Zweiten Weltkrieg einstimmte. Der Film „The King’s Speech“ zeigt, welche Anstrengungen nötig waren, bis der König – ein gehemmter Stotterer – im entscheidenden Moment über sich hinauswuchs.

Als er krebskrank 1952 stirbt, verliert die britische Nation ihren seelischen Anker. Katerstimmung herrscht in dem Land, das den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren hat. Von einem „Wirtschaftswunder“ wie in der Bundesrepublik ist im Vereinigten Königreich nichts zu spüren. Erst 1954 werden die Lebensmittelrationierungen aufgehoben. Von der neuen Königin erwartet man nichts. Wie soll ein junges Ding von 25 Jahren überzeugend das Land repräsentieren?

Doch Elisabeth wächst mit der Aufgabe. Anders als ihre leichtblütige Schwester, Prinzessin Margaret, die man heute als Partygirl bezeichnen würde, ordnet sie ihr Privatleben dem royalen Amt unter. Sie verschmilzt mit der Rolle, die die Öffentlichkeit von ihr erwartet. Sie wird zu einer Schauspielerin im Dienste des Staates. Was nach Feierabend in den königlichen Gemächern passiert (ob zum Beispiel ihr Ehemann Philip – wie es die Serie „The Crown“ andeutet – wirklich fremdgegangen ist), davon erfahren Hinz und Kunz und Lieschen Müller nichts.

Das ist damals, in den 50ern und frühen 60ern, nichts Ungewöhnliches. Rock Hudson, der in seinen Filmen die Frauen verzauberte (allein dreimal Doris Day), bevorzugte im wirklichen Leben männliche Sexualpartner. Und der charmant-souveräne Cary Grant war jenseits der Leinwand depressiv und LSD-abhängig. Doch in den Zeitungen jener Zeit ist davon kein Wort zu lesen. Viele Journalisten werden es gewusst haben, geschrieben hat kein einziger darüber.

Das ändert sich mit der Popkultur. Das Privatleben wird nicht länger unter Verschluss gehalten, sondern öffentlichkeitswirksam zur Schau gestellt. John Lennon und Yoko Ono zelebrieren ihre Flitterwochen unter Begleitung der Presse. Die Medien sind live dabei, als die beiden von einem Bett im Amsterdamer Hilton Hotel aus ihre Sicht auf den Vietnamkrieg, die Liebe und das Leben erläutern. Es wird üblich, dass Rockjournalisten (wie die des amerikanischen „Rolling Stone“) wochenlang Bands auf Tourneen begleiten und ihren Lesern detailliert berichten, was hinter der Bühne geschieht. Da wird nicht nur Kamillentee getrunken. Ja, ganze Karrieren, wie die der Stones und der Sex Pistols, bauen darauf auf, dass das exzessive Leben in allen Facetten medial breitgetreten wird. Jeder Skandal sorgt für Aufmerksamkeit – und damit für zusätzliche Plattenverkäufe.

Lady Di ist das erste Mitglied der britischen Königsfamilie, das dieses Erfolgsprinzip begriffen hat und für sich zu nutzen weiß. Wer in Fernsehen und Zeitungen Seelenstriptease betreibt, kann sich des Mitgefühls der Masse sicher sein. Prinzessin Diana versteht es, sich als Opfer eines kaltherzigen, fremdgehenden Mannes zu inszenieren. Damit zieht sie die Öffentlichkeit auf ihre Seite.

Wie anders hingegen verhält sich ihre Schwiegermutter Queen Elizabeth. In dem Jahr, als die Ehekrise ihres Sohnes Charles, die Scheidung ihrer Tochter Anne, die Trennung ihres Lieblingssohns Andrew von Sarah Ferguson und deren Oben-ohne-Fotos monatelang die Titelseiten der Boulevardblätter füllen, ist ihre einzige öffentliche Reaktion auf die privaten Desaster ihrer Kinder ein knappes Statement. Dieses könnte kaum nüchterner ausfallen: „1992 ist kein Jahr, auf das ich mit ungetrübter Freude zurückblicken werde. Um es mit den Worten von einem meiner wohlwollenden Briefpartner zu sagen: Es war ein Annus horribilis.“ Statt von einem „horrible year“, einem schrecklichen Jahr, zu sprechen, bedient sie sich des Lateins. Mehr emotionale Distanz ist sprachlich nicht möglich.

Doch wie angenehm war diese Zurückhaltung, verglichen mit dem verbalen Getöse der C-Promis von „Love Island“, „Dschungelcamp“, „Bachelor“ und „Bachelorette“, die ihr Privates bis in die letzte Körperritze zu Schau stellen. Wie wohltuend waren ihre kurzen, sachlichen Verlautbarungen, verglichen mit den „enthüllenden“ Interviews ihrer Schwiegerenkelin, der Soap-Schauspielerin Meghan Markle, die auch ihr eigenes Leben als Seifenoper inszeniert. Queen Elizabeth lehrte uns, dass Diskretion und dezentes Schweigen bisweilen nicht die schlechtesten Eigenschaften sind. Sie beherrschte die Kunst, sich selbst zurückzunehmen. Bis zu ihrem Tod verweigerte sie sich dem Medienzirkus und beschränkte sich auf das, was ihre Rolle als Königin verlangte: zu repräsentieren. Wir werden sie noch vermissen.

Long live the Queen!

Frank Jöricke

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