Triage bei Geimpften und Ungeimpften Wer darf überleben?

Analyse · Mit den exponentiell wachsenden Infektionszahlen bei Covid-19 taucht auch ein Wort wieder häufiger auf, das im Sommer überwunden schien: Triage. Nun ergänzt um die Frage, ob Geimpfte Ungeimpften vorgezogen werden.

 Ein Triage-Zelt im März 2020 vor einer Klinik in Warschau.

Ein Triage-Zelt im März 2020 vor einer Klinik in Warschau.

Foto: AP/Czarek Sokolowski

Anfang der Woche twitterte FDP-Generalsekretär Volker Wissing noch vollmundig „Unser Gesundheitssystem ist stabil, die Gesundheitsversorgung der Bürger gesichert“, um zu begründen, warum die epidemische Notlage aufgehoben werden könne. Zum gleichen Zeitpunkt warnten die ersten Kliniken, dass sie in die Triage reinlaufen würden, wenn sich die Corona-Lage weiter im selben Tempo verschlimmere. Vier Tage später kündigt der Dachauer Landrat bereits an: „Wir werden es nicht mehr verhindern können, wir werden in die Triage gehen.“ Die Behandlungsplätze reichen nicht mehr, nun haben Ärzte zu entscheiden, wer versorgt wird und wer nicht. Und Wissing hat seinen Tweet gelöscht.

Es ist die Situation, die die Menschen weltweit im März vergangenen Jahres besorgt nach Bergamo blicken ließ. Die Region wurde von Corona derart überrollt, dass die Kliniken nur noch Erkrankte behandeln konnten, die eine bessere Lebensperspektive hatten als andere. Hilfsbedürftige sichten und dann sortieren - dafür steht das französische Wort „triage“. Auch in Deutschland gab es die Befürchtung eines überlasteten Gesundheitssystems. Als Frühwarnsystem galt die Inzidenz, also die Zahl der binnen sieben Tagen Infizierten je 100.000 Einwohnern. Daraus ließ sich ablesen, wie sich die Lage zehn bis 14 Tage später in den Krankenhäusern entwickeln - und eingreifen. Deutschland kam an der Triage vorbei.

Die heftige Intervention mit Ausgangsbeschränkungen, Schul- und Geschäftsschließungen geschah vor dem Hintergrund, dass sich niemand schützen konnte, weil es keinen Impfstoff gab. Als er dann kam, erlebte Deutschland die erste flächendeckende Triage: Nur wenige Tausend Dosen, aber Millionen Gefährdete, darunter viele, die an Covid-19 sterben würden. Die Triage kam ins Gesetzblatt: Zuerst die Ältesten und Gefährdetsten, dann die Älteren und Gefährdeten, dann das Personal mit vielen Kontakten. Weil dann Millionen Dosen geliefert wurden, erübrigte sich - zumindest für Erwachsene - das weitere Priorisieren. Jeder durfte, der wollte.

Hätten die Deutschen das so genutzt, wie etwa die Portugiesen, die noch im Februar im Kampf gegen Corona internationale Hilfe brauchten, es gäbe jetzt keine schwerwiegende Bedrohung. Nach wie vor liegt die Inzidenz in Portugal bei 80, während sie sich in Deutschland auf 300 zubewegt. Fast 90 Prozent der Portugiesen haben sich vollständig impfen lassen, aber nur  weniger als 68 Prozent der Deutschen. Wo Bundesländer die Inzidenz nach Impfstatus unterscheiden, wird klar, wer derzeit Pandemietreiber Nummer eins ist: Die Ungeimpften kommen in Baden-Württemberg auf eine Inzidenz von 892, die Geimpften auf 36.

Welche Konsequenzen hat das für die nun an verschiedenen Kliniken nötig werdende Triage?  Die Medizinethik ist sich uneins. „Der Impfstatus bezüglich Covid-19 oder anderen gefährlichen Erkrankungen ist kein Entscheidungskriterium bei der Zuteilung begrenzter Ressourcen im Gesundheitswesen“, sagt der Chef des Bochumer Instituts für Medizinische Ehtik und Geschichte der Medizin, Jochen Vollmann, unserer Redaktion. Wenn also ein 38-jähriger Ungeimpfter und ein 68-jähriger Geimpfter gleichzeitig dringende Behandlung brauchen, aber nur noch eine künstliche Lunge frei ist, wird nach seiner Einschätzung nicht Impfstatus oder Alter als Kriterium herangezogen. „Bei gleicher Dringlichkeit der intensivmedizinischen Behandlung ist aus medizinethischer Sicht entscheidend, welchem Patienten in der akuten Notsituation eine Behandlung am meisten helfen würde“, erläutert Vollmann.

Hierbei spielten die Schwere des individuellen Krankheitsverlaufes, Vor- und Begleiterkrankungen und andere gesundheitliche Faktoren die entscheidende Rolle in der Abwägungsentscheidung. „Ein ethisches Dilemma wird eine solche Situation immer bleiben“, unterstreicht der Bochumer Experte.

Die Bonner Medizinethikerin Annette Dufner verweist indes auf zwei Faktoren. Beim ersten gehe es um die Frage, wie breit oder eng das Solidaritätsprinzip verstanden werde. „In den meisten Fällen behandeln wir bislang auch Erkrankte, die an ihrem Zustand eine Mitschuld tragen, wie etwa Personen, die fahrlässig die Straße überqueren und dann von einem Auto angefahren werden“, erläutert Dufner. Der Grund dafür bestehe darin, dass sie in anderen Bereichen des Lebens zur Solidargemeinschaft beitrügen. Es sei aber auch ein engeres Prinzip der Wechselseitigkeit vertretbar, wonach Hilfe in einem Lebensbereich auch an ein Engagement der Personen in ebendiesem Bereich gebunden werden könne.

Der zweite Faktor hängt für die Bonner Professorin davon ab, wie man die Motivation der Menschen bewerte, die sich nicht impfen lassen. Alkoholikern eine Transplantationsleber vorzuenthalten, verbiete sich vermutlich aufgrund des Suchtcharakters. „Es steht zu fragen, ob Angst vor Impfschäden einen ähnlichen Charakter hat oder eben nicht“, gibt Dufner zu bedenken. Unter dem Strich glaubt sie, „dass sich die Beachtung des Impfstatus in einer überfüllten Intensivstation durchaus argumentieren ließe“ - auch wenn viele Kritiker das für einen starken Paradigmenwechsel halten würden. „Ultimativ sollten derartige Entscheidungen auf politischem Weg gefällt werden“, empfiehlt sie. Das wäre einen neuen Tweet von Ampel-Verhandlern wert - und eine Sondersitzung des Bundestages. Denn es eilt.

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