Soziales Zum Verzweifeln!

Trier/Mainz · Viele Pflegekinder müssen 75 Prozent ihres Nettolohns an den Staat bezahlen. Das sorgt für Frust. Nun wagt das Land den Widerstand.

Christiane Rump hat selber gesehen, wie Jugendliche sich in ihrem Zimmer einschlossen, hemmungslos weinten und von der Welt nichts mehr wissen wollten. 40 Jahre lang hat die Frau aus Kasel (Landkreis Trier-Saarburg) Pflegekinder betreut. Freuten die sich über einen Nebenjob oder Ausbildungsplatz, erlebten sie meist eine böse Überraschung. Bis zu 75 Prozent des Nettoeinkommens mussten sie an den Staat zahlen.

Keine Seltenheit. Denn die Regel existiert nach wie vor in Deutschland. Sie ist in Paragraf 94 des achten Sozialgesetzbuches festgeschrieben und gilt für die Kinder, deren Pflegeeltern Jugendhilfe bekommen – Geld für Miete, Essen, Klamotten und Schulhefte. Gerade Pflegekinder würden  bestraft für ihr erlittenes Schicksal, empört sich Rump. „Bei jungen Menschen, die sich endlich selbstständig machen wollen, entsteht schnell Frust. Einen Führerschein oder Reisen können sie sich nicht leisten, wenn kaum Lohn übrig bleibt“, sagt sie.

Auch in der Landespolitik gärt es wegen der Vorschrift des Bundes. Die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen hat nun einen Antrag gestellt, wonach die Landesregierung dafür kämpfen soll, die Zahlungen der Pflegekinder zu verringern und dauerhaft abzuschaffen. Diese seien „unsozial und leistungsfeindlich“, heißt es in dem Papier.

Der SPD-Landtagsabgeordnete Markus Stein war selber Pflegekind. Als er mit acht Jahren in eine neue Familie kam, habe er sich viele Fragen gestellt: Sagt man „Mama“ oder „Papa“? Bleibe ich jetzt für immer hier? Was passiert mit meinem Nachnamen?“ Warum Betroffene später 75 Prozent ihrer Einkommen zahlen müssen, begreift er nicht. „Was hat das Pflegekind falsch gemacht in seiner Vergangenheit, dass es hier schlechter steht?“, fragt er. Der FDP-Landtagsabgeordnete Steven Wink kritisiert: „Mancher KFZ-Mechaniker verdient plötzlich nur noch 125 Euro im Monat, wenn er einen Großteil seines Gehalts abgeben muss. Die Kollegen haben aber den vollen Lohn in der Tasche. Das ist brutal.“ Daniel Köbler (Grüne) moniert: „Der Frust kann bei Jugendlichen schnell ins Gefühl umschlagen, dann lieber gleich zu Hause zu bleiben und nicht zu arbeiten.“

Die Ampel fordert den Bund auf, bei einer Reform des Gesetzes in die Gänge zu kommen. Momentan ruht der See still. Die AfD-Fraktion im Mainzer Landtag fordert in einem eigenen Antrag, die Abgaben auf 50 Prozent des Nettoeinkommens zu senken. Darin heißt es: „Auch junge Menschen, die nicht leistungsberechtigt sind, setzen eigenes Einkommen in gewissem Umfang für den wiederkehrenden Bedarf des täglichen Lebens, wie etwa Unterkunft, Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Schulbedarf, Hausrat und sonstige Dinge des persönlichen Bedarfs ein.“ Der Anteil von 75 Prozent schränke aber jeglichen Reiz ein, berufliche Eigenverantwortung zu übernehmen.

Ein anderes Problem: Zwar können Jugendämter den Beitrag auf 25 Prozent verringern, wenn das Geld aus einer sozialen oder kulturellen Funktion stammt. FDP-Mann Wink moniert aber, es fehle an einem einheitlichen Katalog, was darunter falle. Nervige Einzelfallprüfungen seien die Folge.

Einnahmen für Kommunen seien wiederum nicht der Rede wert. In Trier flossen im vergangenen Jahr von sechs Pflegekindern 24 452 Euro in die Kasse, 15 Heimkinder zahlten 32 238 Euro. Peter Finkelgruen, Vorsitzender des Pflegeelternvereins für Trier und das Trierer Umland, fordert niedrigere Abgaben. „Viele Kinder plage nach den Lohnabzügen das Gefühl, nur Menschen zweiter Klasse zu sein.

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