Gewerkschaften „Wir brauchen gelebte Solidarität“

Mainz · Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Rheinland-Pfalz fordert die Politik auf, Lehren aus der Krise zu ziehen.

 Für DGB-Chef Dietmar Muscheid muss nach der Krise das gesamte Gesundheitssystem auf den Prüfstand. „Wir dürfen uns hier nicht abhängig machen“, kritisiert der Gewerkschafter.

Für DGB-Chef Dietmar Muscheid muss nach der Krise das gesamte Gesundheitssystem auf den Prüfstand. „Wir dürfen uns hier nicht abhängig machen“, kritisiert der Gewerkschafter.

Foto: dpa/Marijan Murat

Wenn es um die Probleme durch die Corona-Krise geht, stehen derzeit die Unternehmen im Mittelpunkt. Wie kann die regionale Wirtschaft gerettet werden? Doch ebenso brisant ist die Frage, wie geht es den Menschen, die derzeit in Kurzarbeit sind und mit einem Bruchteil ihres normalen Einkommen auskommen müssen. TV-Redakteur Florian Schlecht sprach mit Dietmar Muscheid, Landesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Welche Folgen wird die Corona-Krise für den Arbeitsmarkt in Rheinland-Pfalz haben?

Dietmar Muscheid: Wir können jetzt schon absehen, dass die Corona-Krise deutlich gravierendere Folgen haben wird als die Finanzkrise. Alleine in Rheinland-Pfalz gibt es schon 20 000 Anträge auf Kurzarbeit. Rechnen wir die deutschlandweit prognostizierten Zahlen auf unser Bundesland runter, dann müssen wir mit bis zu 200.000 Frauen und Männern in Kurzarbeit rechnen. Das ist eine erkleckliche Zahl.

Werden viele Menschen in die Arbeitslosigkeit fallen?

Muscheid: Nicht alle werden die Krise in ihrem heutigen Job überstehen – darauf müssen wir uns leider einstellen. Das gilt übrigens auch für Selbstständige, Unternehmer und eben auch Arbeitnehmer. Die Politik steht vor der großen Herausforderung, möglichst viele Existenzen zu sichern.

Was kann Arbeitnehmern die Sorgen davor nehmen, in die Kurzarbeit zu rutschen?

Muscheid: Die Kurzarbeit hat sich als Instrument bewährt. Allerdings bedeutet die gesetzliche Regelung für viele Arbeitnehmer, dass sie nur 60 Prozent ihres Nettogehalts bekommen. Das bringt dann die allermeisten in existenzielle Not, weil alle laufenden Kosten weiter anfallen: Mieten, Versicherungen, bis hin zu Darlehen, die man tilgen muss. Das wird für viele, die vielleicht über Monate auf 40 Prozent ihres Nettoeinkommens verzichten müssen, ein Überlebenskampf. Da muss was passieren.

Was fordern Sie?

Muscheid: Wir haben erstmals die Situation, dass die Arbeitgeber beim Kurzarbeitergeld auch noch von der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Prozent befreit sind. Es geht jetzt darum, nicht nur die Unternehmer zu entlasten, sondern auch die Arbeitnehmer. Wir erwarten, dass mindestens die Hälfte dieser weggefallenen Sozialversicherungsbeiträge an die Arbeitnehmer weitergereicht wird. Dann wären wir wenigstens bei 80 Prozent des Nettolohns.

Die Landesvereinigung Unternehmerverbände kritisiert die DGB-Haltung. Sie sagt, dass Unternehmen, die sich eine Aufstockung leisten könnten, diese freiwillig mit Arbeitnehmern vereinbart hätten. Viele Firmen könnten dagegen nicht mehr Geld ausgeben, weil sie wegen der Corona-Krise mit dem Rücken zur Wand stünden. Was halten Sie dagegen?

Muscheid: Die Arbeitgeber werden bei Kurzarbeit jetzt zu 100 Prozent von den Personalkosten entlastet. Gelebte Solidarität heißt, auch den Beschäftigten zu helfen. Ihnen die Perspektive zu geben, den Arbeitsplatz zu erhalten, ist das eine. Beschäftigte müssen diese schwierige Phase aber auch wirtschaftlich überbrücken können.

Gehen Sie von vielen Unternehmen aus, die freiwillig aufstocken?

Muscheid: In vielen Unternehmen gibt es Vereinbarungen, mit denen das Kurzarbeitergeld aufgestockt wird. Wir wissen aber auch: Bei 40 Prozent aller Beschäftigten in Rheinland-Pfalz gilt keinen Tarifvertrag. Bei denen gehen wir davon aus, dass es keine Regelungen gibt, das Kurzarbeitergeld aufzustocken. Ein Großteil der Arbeitnehmer muss sich also damit zufrieden geben, was der Gesetzgeber jetzt auf den Weg gebracht hat – nämlich mit 60 Prozent des Nettogehalts.

Was erwarten Sie vom Staat?

Muscheid: Die Bundesregierung kann das Kurzarbeitergeld per Rechtsverordnung aufstocken. Die Politik muss entscheiden, ob sie bereit ist den Betroffenen zu helfen. Da, wo Firmen bereits jetzt freiwillig mehr zahlen, gibt es noch ein anderes Problem. Beschäftigte müssen den Aufschlag versteuern. Die Steuerpflicht für Beträge, bei denen es um die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes geht, muss wegfallen. Sonst haben Sie nach einem 20-Prozent-Zuschlag nicht 80 Prozent ihres Nettolohns, sondern weniger Geld. Auch da kann der Staat handeln.

Reicht der Kündigungsschutz, der wegen der Corona-Krise für Mieter geschaffen wurde, in Städten wie Trier oder Mainz aus?

Muscheid: Wir alle hoffen, dass die Krise in möglichst kurzer Zeit überstanden ist. Von daher ist diese Maßnahme ein erster, richtiger Schritt. Wenn die Krise länger anhält und Beschäftigte länger auf einen Teil ihres Lohns verzichten müssen, dann muss die Politik da natürlich nachbessern.

Reichen Leistungen für Arbeitslose aus – oder muss staatliche Hilfe aufgestockt werden?

Muscheid: Wir müssen zumindest an die denken, die wegen der Krise ihren Arbeitsplatz verlieren. Es wäre fatal, diese Menschen durch die jetzt noch gültigen Regeln zu Hartz IV noch zusätzlich zu bestrafen. Was Leistungen, Bezugsdauer und Vermittlungsanforderungen angeht, müssen wir schnell und sehr grundsätzlich über einen anderen Umgang mit Arbeitslosen nachdenken als es jetzt der Fall ist.

Braucht es das bedingungslose Grundeinkommen?

Muscheid: Welchen Namen das Kind auch immer hat: Es geht jetzt in aller erster Linie darum, Existenzen abzusichern. Da gibt es unterschiedliche Wege, über die man diskutieren kann. Wichtig ist schnelle, unbürokratische Hilfe.

Bayern zahlt seit dem 1. April Mittagessen und Trinken für Pfleger in Krankenhäusern, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen. Soll Rheinland-Pfalz nachziehen?

Muscheid: Jede Unterstützung für diese Berufsgruppen ist wünschenswert. Am wichtigsten ist aber, dass wir uns nach der Krise daran erinnern, welchen Wert die Arbeit in der Pflege, im Handel, im Transportgewerbe und in anderen Bereichen für uns alle hat. Wir dürfen nicht vergessen, was diese Frauen und Männer für uns geleistet haben. Daher braucht es für sie unbedingt höhere Löhne und vernünftige Arbeitsbedingungen.

Reichen Staatshilfen für Unternehmen bislang aus – oder sind sie nur ein Trostpflaster?

Muscheid: Ein Teil der Soforthilfen für kleine Firmen ist in Ordnung. Für mittelständische Unternehmen muss aber mehr getan werden. Es ist auch unser Interesse, dass möglichst viele dieser Unternehmen gerade in einem mittelstandsgeprägten Land wie Rheinland-Pfalz die Krise überstehen und eine Perspektive haben, um so Arbeitsplätze zu sichern. Mit Krediten alleine ist vielen nicht geholfen. Erst recht nicht, wenn bei den Bürgschaften ein Restrisiko bleibt, das nicht abgesichert ist.

In der Krise ist ein Problem, dass Schutzkleidung oft im Ausland produziert wird und fehlt. Muss der Nationalstaat nach der Krise wieder eine stärkere Rolle spielen – und selber Produkte fertigen lassen, die die Gesundheitsversorgung betreffen?

Muscheid: Wir müssen uns das ganze Gesundheitswesen nach der Krise genau anschauen. Wir haben schon immer kritisiert, das Gesundheitssystem unter marktwirtschaftlichen Bedingungen und damit gewinnorientiert zu organisieren. Wir dürfen uns auch bei der Gesundheitsversorgung nicht abhängig machen von wenigen Herstellern außerhalb des Landes. Jetzt in der Krise brauchen wir aber auch grundsätzlich mehr europäische Solidarität. Es gilt den Menschen zu helfen, es ist aber auch in unserem Interesse, dass in Deutschland gefertigte Produkte auch künftig Abnehmer in Italien und Spanien finden.

 Der Vorsitzende des DGB in Rheinland-Pfalz, Dietmar Muscheid.

Der Vorsitzende des DGB in Rheinland-Pfalz, Dietmar Muscheid.

Foto: Fredrik von Erichsen

Wie sieht Ihr Berufsalltag in der Corona-Krise aus?

Muscheid: Ich wechsle zwischen dem Homeoffice in Lörzweiler und dem Büro in Mainz. Ich kann nur sagen: Ich vermisse meinen Arbeitsplatz, den Austausch und den Kaffee mit den Kollegen. Selbst, wenn viele Menschen Homeoffice für angesagt halten: Für mich ist es keine erstrebenswerte Arbeitssituation.

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