Kunstradfahren Als James Last in Dauerschleife lief (mit Video)

Koblenz · In den 1980er und 1990er Jahren war das Kunstradfahren richtig populär. Doch der Sport ist nicht mit der Zeit gegangen, bedauert Jens Schmitt, Einer-Weltmeister von 1996. Er ist heute noch im Showgeschäft unterwegs.

Nach seiner aktiven Karriere betreibt Jens Schmitt das Kunstradfahren im Showbereich weiter.

Nach seiner aktiven Karriere betreibt Jens Schmitt das Kunstradfahren im Showbereich weiter.

Foto: TV/privat

Damals, als sechsjähriger Bub, hatte Jens Schmitt genau zwei Möglichkeiten. In seinem Wohnort Klein-Winternheim nahe Mainz gab es zwei Sportvereine. Einen Radsportclub und einen Fußballclub. „Da ich kein Ballgefühl hatte, bin ich zum Radsport“, erinnert sich Schmitt. Es war nicht die schlechteste Entscheidung. Schmitt wurde zu einem der besten Kunstradfahrer in Deutschland. 1996 gewann er in Malaysia den Weltmeistertitel im Einer.

Um den Thron zu besteigen, war höllisch viel Training nötig. „Ich habe im Grunde zehn Jahre lang täglich trainiert, teilweise zweimal am Tag“, sagt Schmitt. Kunstradfahrer brauchen einen sehr langen Atem: „Je nach Schwierigkeitsgrad dauert es eineinhalb Jahre, bis eine Figur sitzt“, berichtet Schmitt. Ein Wettbewerbsprogramm (mit einer bestimmten Zahl von Übungen in einer festgelegten Zeit) entwickelt sich über Jahre.

Kunst oder Radfahren – für was steht der Sport mehr? „Für mich ist er zu 95 Prozent Kunst“, sagt Schmitt. Seine Liebe galt von klein auf dem Fahrrad: „Wenn mir jemand das Rad klaut, würde für mich die Welt untergehen.“

 Das Kunstradfahrer-Leben von Jens Schmitt im Schnelldurchlauf: Mit dem Sport begann er als kleiner Junge (kleines Bild oben). 1996 wurde er in Malaysia Einer-Weltmeister (links). Seit dem Ende der aktiven Karriere wird Schmitt bis heute für Show-Auftritte gebucht (rechts).

Das Kunstradfahrer-Leben von Jens Schmitt im Schnelldurchlauf: Mit dem Sport begann er als kleiner Junge (kleines Bild oben). 1996 wurde er in Malaysia Einer-Weltmeister (links). Seit dem Ende der aktiven Karriere wird Schmitt bis heute für Show-Auftritte gebucht (rechts).

Foto: TV/privat

Ein Jahr nach dem Gewinn der deutschen Schülermeisterschaft ging er 1988 ins Heinrich-Heine-Sportinternat nach Kaiserslautern. Mit 15 Jahren weg von zu Hause. Schmitt: „Damals hat sich alles um den Sport gedreht. Ich war in Kaiserslautern der Erste in der Sparte Kunstrad. Die Radrennfahrer haben mich erst mal belächelt. Ich habe mir aber schnell Respekt erarbeitet, als sie mich im Handstand auf dem Rad gesehen haben.“

Das rund 15 Kilo schwere Zweirad aus Stahl, das ständig kippen will, die gewöhnungsbedürftige kleine Übersetzung, die Dynamik von Bewegungen – das Kunstradfahren hält viele Fallen bereit. „Man braucht Drahtigkeit, Fitness, Koordinationsfähigkeit und Gleichgewichtsgefühl“, sagt Schmitt.

 Kunstradfahrer Jens Schmitt als Kind

Kunstradfahrer Jens Schmitt als Kind

Foto: TV/privat

Als Sportler im Leistungszenit stand er im Fokus der Öffentlichkeit: „In den 1980er und 1990er Jahren war ich des Öfteren in der Fernseh-Sportsendung Flutlicht.“ Das Kunstradfahren war populär. Aber kein Massenphänomen. Schmitt, der Mitte der 1990er Jahre am Radsport-Landesleistungszentrum in Ludwigshafen-Friesenheim trainierte: „Als ich 1996 Weltmeister wurde, hat mich in meinem Heimatort jeder gekannt. Aber schon im Nachbarort war das nicht mehr der Fall.“

Der Leistungsdruck war damals groß. Die Toleranzspanne bei den Wettbewerben, in denen ein Kampfgericht die Ausführungen nach dem Schwierigkeitsgrad bewertet, marginal. Schmitt: „Wer vom Rad absteigen musste, hatte fast schon keine Chance mehr.“ Im Grunde sei es fast schon irrsinnig gewesen:  „Ich bin um die Welt gereist – für einen Sechs-Minuten-Wettkampf. Der Druck war enorm. Du musstest funktionieren wie eine Maschine.“

Die Fall-Höhe war im wahrsten Sinne des Wortes hoch. 1997 machte Schmitt diese schmerzliche Erfahrung. Als Titelverteidiger hatte er bei der WM im schweizerischen Winterthur bereits nach einer Minute seines Programms einen Durchhänger. Immerhin reichte es noch zu Silber. Schmitt hing noch ein Jahr dran – doch auch 1998 blieb ihm ein zweiter WM-Titel als Zweiter verwehrt.

Danach machte er Schluss mit dem Leistungssport – im Alter von nur 25 Jahren. „Ich konnte nichts mehr Neues lernen“, blickt Schmitt zurück

Der heute 45-Jährige betreibt das Kunstradfahren nur noch aus Spaß. Zweimal pro Woche steigt er zum Training aufs Sportgerät – meist in der CGM-Arena seiner aktuellen Heimatstadt Koblenz. Nach dem Ende der aktiven Karriere 1998 bot ihm Heidi Aguilar, Choreografin und Regisseurin unter anderem beim „Feuerwerk der Turnkunst“ ein Sprungbrett in die Variété-Szene. Schmitt ist für Auftritte in vielen Städten unterwegs – zum Beispiel auch in Wittlich und Luxemburg.

Für den Leistungssport Kunstradfahren interessieren sich medial heute nur noch wenige – obwohl deutsche Sportler weiterhin Weltspitze sind.  Die Sportart ist aus Sicht von Schmitt nicht mit der Zeit gegangen. Sie habe es verpasst, hip zu werden. „In den 1980er Jahren wurde bei Meisterschaften eine Kassette von James Last in Dauerschleife gespielt. Noch heute ist die Präsentation altmodisch. Die Kleidung bei Meisterschaften ist wie zu Turnvater Jahns Zeiten. Modern sieht anders aus.“

Die Sportart habe den Muff als alte traditionelle Disziplin nicht abgelegt. „Sie macht den Fehler, nicht wie im Eiskunstlaufen auf eine richtige Kür mit künstlerischen Freiheiten zu setzen, sondern weiterhin nur auf eine Art Pflicht“, bedauert Schmitt, der am Nürburgring für Lotto Rheinland-Pfalz als Bezirksleiter arbeitet. So fehlten Überraschungs- und Gänsehautmomente. „Hinzu kommt, dass für den Laien schwierig zu erkennen ist, wer nun eigentlich besser ist.“

Schmitts neun und 14 Jahre alte Töchter betreiben den Kunstradsport nicht. Papa Jens kann es ihnen nicht verdenken: „Die eine fechtet, die andere ist beim Voltigieren. Immerhin: Die Artistik auf dem Pferd ist ja so ähnlich wie das Kunstradfahren.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort