Geschichte Als Nazis seine Familie fast auslöschten - Vortrag bannt Zuhörer in der Saarburger Glockengießerei

Saarburg. · Henri Juda erzählt. Er erzählt die Geschichte seiner jüdischen Familie im Nationalsozialismus. Seine Erinnerungen sind pointiert und vor allem sehr emotional. Die Gäste in der Saarburger Kulturgießerei hören gebannt zu.

 Bewegend und eindrücklich: Henri Juda aus Luxemburg erzählt von seiner leidvollen Familiengeschichte unter dem Nationalsozialismus.

Bewegend und eindrücklich: Henri Juda aus Luxemburg erzählt von seiner leidvollen Familiengeschichte unter dem Nationalsozialismus.

Foto: Dirk Tenbrock

Henri Juda ist mittlerweile über 70 Jahre alt und verdankt seine Geburt dem glücklichen Umstand, dass seine Mutter das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hat.

Dort war sein Bruder, als nur wenige Tage altes Baby, von Nazi-Schergen ermordet worden. Diese schockierende Geschichte erzählt der ehemalige Luxemburger Banker – neben anderen ergreifenden, grausamen und erstaunlichen Erinnerungen – bei einem Vortrag in der Saarburger Kulturgießerei über das Leben (und Sterben) seiner jüdischen Familie.

Die Geschäftsführerin des Kulturhauses, Anette Barth, wird nicht müde, mit solchen Veranstaltungen immer wieder zu mahnen und zu erinnern, damit die Menschen aus der Vergangenheit lernen können.

Henri Juda ist erst spät dazu gekommen, seine Geschichte in Vorträgen zu verarbeiten, seine zweite Frau habe ihn vor einigen Jahren dazu gedrängt, „sonst gehst du daran kaputt“, habe sie gesagt.

Dabei ruht er in Gewissheit der Wahrheit in sich selbst. So kommt es, dass der Mann fast zwei Stunden eloquent erzählt (unterstützt durch eine Bilderschau) und doch mit sich ringt, als sei das Geschehene noch ganz nah. Er ist offensichtlich emotional bewegt und bleibt doch sachlich in der Wortwahl und auf Fakten basiert, die er selbst recherchiert hat.

Die Zuhörer sind gebannt und konzentriert. Und manchmal wird im voll besetzten Saal des Cafés Urban gelacht oder geschmunzelt, das wirkt befreiend, auch für Henri Juda selbst. Voll bitterer Ironie zeigt er da beispielsweise ein Bild des Chefs der Luxemburger Armee, der bei Vorbeifahrt des „Reichsführers SS“, Heinrich Himmler, den rechten Arm zum Gruß erhebt.

„Hier dürfen Sie nicht durch“, dichtet ihm Juda an, anstelle des ganz offensichtlichen Hitlergrußes. Überhaupt sei die Rolle der Luxemburger Verwaltung, Polizei, Kirche und Bevölkerung zwielichtig – die offizielle Geschichtsschreibung habe das bis vor einigen Jahren weitestgehend verklärt, als sei man ein Volk von lauter Widerständlern gewesen. Eine Herabsetzung der echten Résistance, meint Juda, die habe es nämlich auch gegeben, aber zu viele hätten sich im Krieg zu schnell den neuen Machthabern unterworfen, teils im vorauseilenden Gehorsam.

Rechne man die Mitglieder der „Volksdeutschen Bewegung“ auf die Gesamtbevölkerung hoch, sei das eine ganz große Mehrheit gewesen. „Allein 1500 Männer haben sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Die sind dann teils in Nazi-Uniform beerdigt worden, und auf dem Grabstein stehe trotzdem: Mort pour la Patrie“, echauffiert sich Juda. Seine Familie habe besonders unter der NS-Herrschaft gelitten, unter Verrat, Enteignung und Zwangsarbeit – Dutzende Tote sind zu beklagen. Aber eben auch wundersame Überlebensgeschichten gebe es, mit helfenden und versteckbietenden Nachbarn und Freunden im Dorf Befort in Luxemburg.

Auch nach dem Krieg habe man als Familie unter alten Ressentiments gelitten. Die Kinder seien in Luxemburg geblieben und zur Schule gegangen, da habe es dann manchmal geheißen: „Geht nach Polen, da ist viel Platz!“ Die Eltern hatten sich mit dem Land der Täter arrangiert und in Bitburg ein Bekleidungsgeschäft geführt. Juda erzählt – fast atemlos – die erschreckende Anekdote, dass sich seine im Jahr 2001 verstorbene Mutter in Vor-Schengen-Zeiten nicht über die Grenzbrücke Echternach getraut habe, weil sie in einem der Zöllner einen ehemaligen Wachmann aus Auschwitz erkannt habe.

Das Vernichtungslager hatte Jeanne (geborene Salomon) im berüchtigten Block 10 – wo unter anderen auch Dr. Josef Mengele seine Sterilisationsexperimente durchführte – nur überlebt, weil sich eine zwangsverpflichtete Ärztin und die aus Trier stammende, kommunistisch vernetzte Ober-Aufseherin (aus den Reihen der Mithäftlinge) ihrer angenommen haben und das KZ im Februar 1945 rechtzeitig befreit wurde.

All das und noch viel mehr erzählt Henri Juda frei, ohne Manuskript und mit einer ergreifenden Eindringlichkeit. Er möchte seinen Vortrag ausdrücklich auch als Warnung gegen den wieder aufkommenden Rechtsextremismus und Antisemitismus in Europa verstanden wissen. Schon auf der Konferenz des Völkerbundes in Evian 1938 ging es um die Verteilung von Kontingenten jüdischer Flüchtlinge, aber man konnte sich aus nationalem Egoismus nicht einigen.

Ähnliches passiere gerade wieder mit Menschen, die vor Krieg und Leid flüchten müssten. „Wehret den Anfängen“, war dann auch eines der Themen der sich anschließenden, lebhaften Diskussion mit dem ergriffenen Publikum in der Kulturgießerei.

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