Berlin Im Land kippt was

Berlin · Plötzlich steht die Bundesrepublik für politische Instabilität – und die Nationalmannschaft scheidet zum ersten Mal bei einer WM in der Vorrunde aus. Es rumort.

 Aufmacher 2906

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Foto: TV/Schramm, Johannes

Nach der historischen WM-Pleite gegen Südkorea verbreitet der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier via Twitter ein Bild von Mesut Özil. Es zeigt Özil grinsend. Dazu das Zitat: „Zufrieden, mein Präsident?“ Maier kommentiert: „Ohne Özil hätten wir gewonnen!“ Seit dem Foto von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan sind die beiden deutschen Nationalspieler mit türkischen Wurzeln bei vielen unten durch. Der Frust bricht sich im Netz in rassistischen Attacken Bahn.

Deutschland, im Sommer 2018. Kaum Nationalflaggen an den Autos, eine eigenartige Stimmung auch auf den politischen Sommerfesten in Berlin. Es liegt was in der Luft. Gerade Özil ist in rechten Kreisen zur Hassfigur geworden – wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Gelsenkirchener galt lange als Symbol für Deutschland als Einwandererland, als Beispiel für Aufstieg und Integration, als Stütze der DFB-Auswahl. Unvergessen Merkels Foto mit dem halbnackten Özil in der Kabine 2010 nach einem Länderspiel – gegen die Türkei.

Fußball ist immer ein Ventil, eine WM wird als ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Lage herangezogen. 1954 das Wunder von Bern, das Nachkriegsdeutschland Mut machte. 1990 Italien, der Titelerfolg des wiedervereinigten Deutschlands. 2006 das weltoffene, fröhliche Gastgeberland, ein Sommermärchen. 2014 die Nacht von Rio – Deutschland in Aufschwung, Lockerheit, Euphorie.

Klar, Fußball ist Fußball. Aber das Fiasko in Russland passt zur latent angespannten Stimmung, irgendwie. Bürger in Sorge. Abstiegsängste, die Globalisierung, die zunehmend als Gefahr gesehen wird, das Tempo der Digitalisierung.

2018 geraten Gewissheiten ins Wanken, zwar sind die Flüchtlingszahlen stark gefallen, aber zum Beispiel der Mord an der 14-jährigen Susanna hat die Stimmung weiter angefacht. Tatverdächtig ist ein abgelehnter und nicht abgeschobener Asylbewerber aus dem Irak. Merkel wurde zur „Flüchtlingskanzlerin“ – und darüber kommt es nun zum politischen Endspiel mit CSU-Chef Horst Seehofer.

Der Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit des Staates führt zum Aufstieg autoritärer Kräfte – und in Berlin leben viele Politiker immer noch in einer Blase, eine schleichende Entfremdung. Dabei zeigen der Brexit und die Wahl Donald Trumps, wie schnell etwas rutschen kann, wenn die Signale nicht gesehen werden.

Merkel regiert seit 2005, Joachim Löw ist seit 2006 Bundestrainer. Beide eint eine ruhige Art, auch unter großem Druck. Aber auch Sturheit. Nun sind beide angezählt, und Merkel soll jetzt etwas wagen, was auch Löw nicht mag: einen radikalen Kurswechsel. Einknicken vor der CSU und Parteichef, Innenminister Horst Seehofer. Grünes Licht geben für die Abweisung von bereits in anderen EU-Staaten registrierten Flüchtlingen, auch wenn diese Staaten die Migranten gar nicht zurücknehmen. Merkel mag Ordnung, das Einhalten von Verträgen, verlässliche Absprachen. Darauf gründet auch der Erfolg des europäischen Einigungsprojekts. Das steht nun auf dem Spiel.

Der Konflikt Merkel-Seehofer ist für viele eine Abrechnung mit der sogenannten Willkommenskultur, der Aufnahme von mehr als einer Million Flüchtlingen. „Wir haben das wohl alle falsch eingeschätzt“, sagt ein Regierungsmitglied resignierend mit Blick auf das Jahr 2015.

Fatalisten sehen das WM-Aus schon als Omen: Jetzt stürze auch Merkel – und die Regierung. Merkel und Löw, das stand bisher auch für „Wir schaffen das“. Beide haben diesen Satz schon gebraucht. Merkel in Bezug auf die Flüchtlinge, Löw auf das Weiterkommen in Russland. Beide lagen sie irgendwie falsch.

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