Schauspiel Vom armen Knirps zum Nobelpreisträger - Brillantes Theater über Albert Camus in Trier

Trier · Ein Abend der großen Gefühle: Joachim Król erzählt mit dem l’Orchestre du Soleil im voll besetzten Trierer Theater die Kindheitsgeschichte des Schriftstellers Albert Camus nach dessen unvollendetem Roman „Der erste Mensch“. Eine brillante Vorstellung.

   Glänzt mimisch, gestisch und stimmlich: ­Joachim Król liest Camus.

Glänzt mimisch, gestisch und stimmlich: ­Joachim Król liest Camus.

Foto: Dirk Tenbrock

Herbst 1957. Die „Tagesschau“ im Deutschen Fernsehen verkündet den bis dahin zweitjüngsten Nobelpreisträger für Literatur. Albert Camus, Jahrgang 1913, aus der französischen Kolonie Algerien, ein Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, erhält die Auszeichnung, weil er „mit scharfsichtigem Ernst menschliche Gewissensprobleme in unserer Zeit beleuchtet“.

Nach der Fernseheinspielung in Schwarz-Weiß hebt sich der Vorhang auf der Trierer Theaterbühne und gibt den Blick frei auf den von vielen Fans im Publikum erwarteten Gast, den Bühnen- und Filmschauspieler Joachim Król, und die im Halbkreis hinter ihm platzierten fünf Musiker des l’Orchestre du Soleil. Das statische Bühnenbild (Lucia Faust) wird sich in den nächsten zweieinhalb Stunden nicht verändern – mehr als sonst im Theater sind genaues Hören und die Vorstellungskraft der 620 Besucher gefragt.  Dafür erleben sie auf immer wieder berührende Weise, wie facettenreich, wuchtig und eindringlich sich Króls Stimme zu der Musik entfaltet und im Zuschauer die Welt des jungen Camus anschaulich wird.

Król schlüpft in die Rolle des Ich-Erzählers, der zurückkehrt nach Algier in seine Kindheit, die von Armut und Strenge geprägt war, die aber auch die Schönheit der Heimat beschwört. Dort, wo Kinder sich am Strand austoben, auf der Straße Fußball spielen, wo die Linsen vor dem Kochen noch einzeln verlesen werden und „Latein“ ein Wort ist, das zu Hause in der Familie absolut keinen Sinn ergibt. Mutter und Großmutter daheim können ja nicht mal die eigene Sprache lesen oder schreiben, für Bildung glauben sie sich einfach zu arm. Król rezitiert aus dem für die Bühne überarbeiteten persönlichsten Camus-Text „Der erste Mensch“ (Bühnenfassung Martin Mühleis), passagenweise begleitet von Akkordeon, Laute, Schlagzeug, Gitarre/Ukulele und Klarinette – mal sehr rhythmisch, trommelnd, mit orientalisch klingenden Tonfolgen,  mal als leise melodische Hintergrundmusik (Komposition und musikalische Leitung: Christoph Dangelmaier). Dabei wird die Stimme Teil der Musik, das Orchester im Rücken des Erzählers nimmt punktgenau Króls Worte auf und fügt sie, zusammen mit einer ausgefeilten Lichttechnik, die von verschiedenen Seiten Spots und Farben erzeugt, zu einem Gesamtkunstwerk (Lichtdesign: Birte Horst).

Wenn man die Augen schließt, nimmt man noch intensiver wahr, wie die poetische, teils lyrische Sprache und die wandlungsfähige Stimme sich mit der Musik verbinden und im Kopf Bilder entstehen lassen vom Armenviertel in Algier im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Wo die Mutter nach dem Kriegstod des Vaters putzen gehen muss, die Großmutter ein strenges häusliches Regiment führt und erst die persönliche Fürsprache des Volksschullehrers den wegweisenden Wechsel zum Gymnasium möglich macht.  Und wo der Sohn mit der Berufsbezeichnung der Mutter als „Hausbedienstete“ auf einen Schlag die Scham kennenlernt „und die Scham, sich geschämt zu haben“.

Wenn man die Augen schließt, entgeht einem allerdings das eindrückliche Spiel des Joachim Król, dem das Rampenlicht kaum mal eine kurze Trinkpause gönnt und der dennoch bis zum Schluss fast ohne Versprecher eine beeindruckend intensive Vorstellung gibt. Der in weißem Hemd, mit Krawatte und Jackett gekleidet so emphatisch und wild gestikulierend mal den scheuen Jungen verkörpert, der die mit dem Ochsenziemer strafende Großmutter fürchtet, mal die  abgearbeitete  Mutter, die oft zu müde zum Reden ist, dass man als Zuschauer immer wieder befürchtet, nun werde er, Król, von seinem hohen Hocker herunterfallen, auf dem er hinterm Lesepult sitzt.

Am intensivsten wirkt sein Vortrag in den ruhigeren Passagen, wo eine Geste wie ein Händedruck im Leben des kleinen Jungen etwas Großes bedeutet. Und da, wo der spätere Literaturnobelpreisträger die Schule als großes Abenteuer entdeckt und Lesen als einen „Kosmos voller Verheißungen“.

Camus, der am 4. Januar 1960 tödlich verunglückte, hatte sich nach der Nobelpreisverleihung in einem Brief bei seinem Volksschullehrer bedankt für dessen Hilfe und die entscheidende Weichenstellung. Dieser Brief und die von großen Gefühlen getragene Antwort des Monsieur Germain zeigen am Schluss auch beim Trierer Publikum eine starke Wirkung. Es bedankt sich mit Standing Ovations.

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