Kunst Aufschrei einer gequälten Seele

Bonn/Oslo · Er gilt als einer der bedeutendsten Maler der Kunstgeschichte und Wegbereiter der Moderne: Vor 75 Jahren starb der norwegische Expressionist Edvard Munch.

 Eine Besucherin betrachtet das Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch in einer Ausstellung in der Albertina in Wien (2003). 

Eine Besucherin betrachtet das Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch in einer Ausstellung in der Albertina in Wien (2003). 

Foto: dpa/A2918 epa apa Hans Klaus Techt, APA (dpa)

(KNA) Wer kennt das suggestive Gemälde nicht? Ein Steg am Meeresufer, Abendstimmung. Hinten links zwei Spaziergänger. Und im Vordergrund diese Gestalt in dunklem Gewand. Die Hände in höchster Erregung zum Kopf erhoben, die Augen aufgerissen, den Mund weit geöffnet. „Der Schrei“ von Edvard Munch gehört zu den wenigen Gemälden, die gleichsam ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegangen sind. Sein Schöpfer starb vor 75 Jahren, am 23. Januar 1944, auf seinem Landsitz bei Oslo.

Vier Mal hat Munch dieses Motiv ausgestaltet, in Pastell und Tempera, als Lithografie und – stark verändert – als Federzeichnung. Entstanden, so hat es der Maler in seinem Tagebuch selbst festgehalten, ist das Bild im Nachgang zu einem sommerlichen Spaziergang am Oslofjord. Während die anderen Spaziergänger sich am blutroten Abendhimmel erfreuten, glaubte Munch, zitternd vor Angst, einen „großen, unendlichen Schrei durch die Natur“ zu hören. Und den hat er dann gemalt.

Doch der „Schrei“ steht nicht allein in Munchs Oeuvre. Im Gegenteil: Eine Vielzahl seiner Gemälde lassen sich als Bild gewordener Aufschrei einer gequälten Seele deuten. „Angst“, „Verzweiflung“, „Vampir“, „Melancholie“ – schon die Titel geben Einblick in die geschundene Psyche des Malers.

Munch hatte im besten Sinne des Wortes eine schwere Kindheit. 1863 in Löten, nördlich von Oslo, geboren und in der Hauptstadt aufgewachsen, verliert er mit nur fünf Jahren seine Mutter. Neun Jahre später folgt ihr Edvards ältere Schwester in den Tod. Der Vater wird depressiv, flüchtet sich in eine strenge puritanische Religiosität. Geldsorgen plagen die Familie. Edvard selbst ist oft krank. Ein Ingenieursstudium bricht er nach einem Jahr ab. Zu oft muss er den Vorlesungen aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben.

1880 beschließt Munch, Maler zu werden. Schon als Kind war seine diesbezügliche Begabung aufgefallen. Jetzt schreibt er sich an der Königlichen Zeichenschule ein, mietet ein Atelier an. Eine Studienreise führt ihn erstmals ins Kunst-Mekka Paris. Und er beginnt, die Malerei gewissermaßen therapeutisch einzusetzen. „Das kranke Kind“ gilt heute als Munchs erstes Hauptwerk. Darin entfernt er sich vom akademischen Realismus seiner ersten Gemälde. Statt die Realität naturgetreu wiederzugeben, lässt Munch seine Gefühle Gestalt annehmen.

Die Kritik zerfetzt Munchs neuen Stil. Doch der Künstler lässt sich nicht beirren. Immer weiter entfernt er sich von einer realistischen Malweise. Aber auch mit den subtilen Farbspielen des französischen Impressionismus kann er sich nicht anfreunden. Seine Bilder sind grell, oft holzschnittartig, radikal in ihrer Verknappung. So wird er zum Vorgänger der Expressionisten.

Munch führt ein ruheloses Leben, lebt mal in Norwegen, mal in Frankreich, oft auch längere Zeit in Deutschland. Doch auch dort wechselt er ständig das Domizil. Er sucht Kontakt zu verschiedenen Künstlern, einer Gruppe aber schließt er sich nie an. Psychisch ist er weiterhin labil, ertränkt seine Probleme in Alkohol. Eine schwierige Liebesbeziehung verstärkt die Misere.

Und doch ist Munch unverändert produktiv. Er malt Porträts und Naturszenen, immer wieder auch religiöse Motive. Neben den Gemälden fertigt er Holzschnitte und Radierungen an, gestaltet Theaterplakate und Bühnenbilder, experimentiert mit Fotografie und Film. Die anfängliche Ablehnung seiner Kunst - seine erste Berliner Ausstellung im Jahr 1892 wird wegen Protesten nach nur einer Woche geschlossen – wandelt sich in Bewunderung. Spätestens seit der Jahrhundertwende gilt er als einer der führenden Repräsentanten der modernen Malerei.

Doch Munch zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Nach einem achtmonatigen Klinikaufenthalt in Dänemark beendet er sein Nomadendasein und lässt sich in Norwegen nieder. 1909 bis 1916 lebt er in der Küstenstadt Kragerö, von da an bis zu seinem Tod auf Gut Ekely nahe Oslo. Künstlerisch ist er unvermindert aktiv, lebt gewissermaßen für und mit seiner Kunst. Dass viele seiner Bilder nun lebensbejahender scheinen, lässt auf eine verbesserte psychische Gesundheit schließen. Den Nachruhm des „Schreis“ konnten diese Gemälde allerdings nicht erreichen.

(kna)
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