Freiburg Offene Fragen nach Kindesmissbrauch

Freiburg · Im Missbrauchsfall von Staufen bei Freiburg stehen Jugendamt und Justiz in der Kritik. Sie hatten ein Kind bei seiner Mutter gelassen, obwohl es Anzeichen einer Gefahr für den Jungen gab. Aus dem Fall wollen sie Lehren ziehen. Doch liefern sie auch konkrete Antworten?

 Mitglieder der Initiative „Aktiv gegen Missbrauch“ halten mit Bannern vor dem Landgericht eine Mahnwache. Nach dem  Missbrauch eines Kindes   prüft die Staatsanwaltschaft die Arbeit von Jugendamt und Justizbehörden in dem  Fall.

Mitglieder der Initiative „Aktiv gegen Missbrauch“ halten mit Bannern vor dem Landgericht eine Mahnwache. Nach dem Missbrauch eines Kindes prüft die Staatsanwaltschaft die Arbeit von Jugendamt und Justizbehörden in dem Fall.

Foto: dpa/Patrick Seeger

Der kleine Junge war seinen Peinigern schutzlos ausgeliefert. Er wurde im sogenannten Darknet angeboten und jahrelang von Männern vergewaltigt. Von der Mutter konnte er keine Hilfe erwarten, sagen Ermittler. Die 48-Jährige und ihr 39 Jahre alter Lebensgefährte, die derzeit in Freiburg vor Gericht stehen, waren an den Verbrechen demnach aktiv beteiligt. Sie gelten als Drahtzieher und Haupttäter. Hinzu kommt mögliches Behörden- und Justizversagen. Das Jugendamt und zwei beteiligte Gerichte sehen sich mit Kritik konfrontiert – und nicht nur das.

„Uns liegen knapp 15 Strafanzeigen von Bürgern vor“, und zwar gegen Verantwortliche des Jugendamtes und Richter an den zwei beteiligten Gerichten, sagt der Sprecher der Freiburger Staatsanwaltschaft, Michael Mächtel. Die Gerichte hatten entschieden, dass der heute neun Jahre alte Junge bei seiner Familie bleiben soll – obwohl es Anzeichen für eine Gefährdung gab. Die Bürger, die Anzeige erstattet haben, werfen den Verantwortlichen unter anderem Rechtsbeugung und Beihilfe vor. Die Staatsanwaltschaft prüfe nun, ob es in dem Fall strafrechtlich relevante Versäumnisse gab.

Auch das Landgericht Freiburg bemüht sich um Aufklärung. Der Prozess gegen die Mutter des Kindes und ihren Lebensgefährten, beide Deutsche, hat vor einer Woche begonnen. Er wird an diesem Montag fortgesetzt. Die Mutter hat bislang geschwiegen, aber angekündigt, in dem Prozess auszusagen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ein Urteil wird es frühestens Mitte Juli geben.

„Der Prozess verhandelt die Vorwürfe gegen die Mutter und ihren Lebensgefährten“, erklärt Staatsanwältin Nikola Novak. Der Mann ist wegen schweren Kindesmissbrauchs vorbestraft, er war kurz zuvor aus dem Gefängnis gekommen. Der 39-Jährige durfte sich Kindern nicht nähern, keinen Kontakt zu Kindern haben – und er stand unter sogenannter Führungsaufsicht. Dennoch lebte er, wie er vor Gericht sagte, spätestens von Anfang 2015 an bis zu seiner Festnahme im Herbst 2017 mit der Frau und ihrem Sohn „wie eine Familie“ zusammen.

Als die Anwesenheit des Mannes bei der Frau und ihrem Kind bekannt wurde, nahm das Jugendamt den Jungen Mitte März 2017 aus der Familie und alarmierte die Justiz. Diese schickte das Kind knapp einen Monat später zurück zur Mutter und untersagte dem laut Gericht mit einem Rückfallrisiko behafteten Mann, Kontakt zu dem Kind zu haben. Er und die Mutter hielten sich jedoch nicht an die Auflagen. Die damals noch unentdeckte Vergewaltigungsserie setzte sich fort. Mehrmals wöchentlich kam es zum Missbrauch, sagt der Mann.

Die Taten, sagt Staatsanwältin Novak, wurden „mit der Zeit häufiger und heftiger“. Erst ein anonymer Hinweis beendete die jahrelangen Qualen des Jungen, der inzwischen bei einer Pflegefamilie lebt. Seine Mutter sitzt, ebenso wie der Lebensgefährte und sechs weitere mutmaßliche Täter, in Untersuchungshaft.

Kontrolliert wurden die vom Gericht verhängten Auflagen nicht. Justiz und Jugendamt machen sich dafür gegenseitig verantwortlich. Beide, so heißt es heute, vertrauten den Angaben der Mutter. In dem Verfahren wird sie von Jugendamt und Justiz „der blinde Fleck“ genannt. Niemand hielt es für möglich, dass eine Mutter ihr eigenes Kind missbraucht und Männern zum Vergewaltigen überlässt.

„Wir wollen aus diesem Fall Lehren ziehen“, sagt die Sprecherin des Oberlandesgerichtes (OLG) Karlsruhe, Julia Kürz. Das OLG hatte, wie zuvor bereits das Amtsgericht Freiburg, entschieden, den Jungen nach seiner staatlichen Inobhutnahme zurück in die Familie zu schicken. Eine aus Richtern und Vertretern des Jugendamtes bestehende Arbeitsgruppe soll klären, wie solche Fälle in Zukunft verhindert werden können. Darauf setze auch das Jugendamt, sagt sein Sprecher.

„Ziele sind eine bessere Kommunikation zwischen Polizei, Justiz und Jugendämtern, verbesserte Abläufe sowie die Frage von Kontrollen“, sagt Richterin Kürz. Anfang Juli treffe sich die Arbeitsgruppe ein drittes Mal, Ende Juli sei mit dem Abschlussbericht zu rechnen.

Auch das Land Baden-Württemberg arbeite an Aufklärung, sagt ein Sprecher des Sozialministeriums in Stuttgart. Innen-, Justiz- und Sozialministerium wollen bis Ende Juli Ergebnisse vorlegen. Zudem komme bis Ende 2019 das landesweite Kinderschutzkonzept zum Tragen, das im vergangenen Dezember vorgelegt wurde. Darin verankert seien unter anderem Fortbildungen für Mitarbeiter von Jugendämtern.

„Wir wollen, gemeinsam mit dem Deutschen Jugendinstitut und den Kommunen, für alle Jugendämter im Land einheitliche Vorgehensweisen erarbeiten“, sagt Sozialminister Manfred Lucha (Grüne).

Das Ziel sei, für Gefahren zu sensibilisieren und Kindesmissbrauch zu verhindern.

(dpa)
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