Achtsamkeit. Eine stille Revolution.

Wir leben in einer Welt, die derart mit Information, Meinung, Aufregung, Angst, Lärm, Gleichzeitigkeit, Krise und Katastrophe überfüllt ist, dass die Vokabel "Achtsamkeit" zynisch klingt. Die Gesellschaft, so scheint es, hysterisiert sich täglich.

Achtsamkeit. Eine stille Revolution.
Foto: (e_eifel )

Die Angst scheint immer mehr Diskurse zu beherrschen. Eine Angst, die sich in Hass und in immer primitivere Weltbilder übersetzt. Die Welt hat sich auf eine seltsame Weise entzündet.
Nicht so sehr, weil es "immer mehr" Kriege und Konflikte gibt. Sondern weil unsere Wahrnehmung sich verändert hat. Wir sind auf einer gewissen Wahrnehmungsebene empfindlicher geworden. Achtsamkeit heißt: In einer überreizten, überkomplexen Welt zu lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen. Uns vergewissern, um leben zu können. Und gleichzeitig birgt der Begriff der Achtsamkeit die tiefere Erkenntnis, dass die Welt gar nicht wirklich über-reizt, über-komplex ist.
Wir erkennen, dass wir die Welt durch unser Kopfkino selbst konstruieren. Wir machen manche Hysterien durch unsere Aufmerksamkeiten erst mächtig. An diesem Punkt wird Achtsamkeit zu einem Freiheitsbegriff - und genau das macht seine Sprengkraft aus. Ist Achtsamkeit die Gegenbewegung zur Individualisierung? Nein. Sie ist die Verwirklichung von Individualität im Zeitalter der Übernervosität. Achtsamkeit ist die Haltung der reifen Individualität in einer dauerverbundenen Welt. Der Begriff ist ohne das Wort Selbst-Wirksamkeit nicht zu verstehen: Achtsamkeit schaut nach innen, ohne das Außen zu vernachlässigen. Nein, wir müssen nicht alles glauben, was uns jede Minute um die Ohren fliegt. Achtsamkeit will heraus aus dem ewigen Müssen. Sie hilft, die eigenen Schwächen zu verstehen und zu bejahen. Scheitern zu lernen, aber auch aus dem Scheitern zu lernen. Ziele selbst-bewusst zu setzen, anstatt immer nur einem "Ziel" hinterherzujagen. Natürlich hat Achtsamkeit etwas mit Spiritualität zu tun. Meditation und Gebet sind eine Grundtechnik der Achtsamkeit. Achtsame Menschen ahnen, dass Krisen Impulse des Neuen sind. Dass Mitgefühl guttut. Achtsamkeit lehrt, in den Problemen die Lösungen zu sehen. Achtsame Menschen lernen, ihre Angst zu moderieren.
Jörg Koch
Pastoral-
referent
Dekanat St. Willibrord

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