Ali war wie eine zweite Haut
PRÜM. Deutschstunde der besonderen Art: Der Kölner Dokumentar-Schriftsteller Günter Wallraff ("Ganz unten") sprach im Rahmen des Eifel Literatur Festivals mit Prümer Realschülern über Ängste, Intentionen und Ergebnisse seiner Arbeit.
Lange Nacht im Ratssaal der Verbandsgemeindeverwaltung Prüm. Nach der Lesung aus seinem neuen Buch "Ich - der andere" und gut 30-minütiger Autogrammstunde hat Günter Wallraff endlich Zeit für seine jungen Gäste. Die Schüler der Klasse 10 der Kaiser-Lothar-Realschule haben sich mit ihrem Lehrer Werner Ludgen immerhin bis 22.30 Uhr gedulden müssen. Doch dass sich das Warten gelohnt hat, wird schnell deutlich. Denn bereits während der zwei Stunden zuvor ist klar geworden, dass der Kölner Aufdecker ein Mann der Tat ist, vollkommen authentisch wirkt und sich auch heute noch - glasklar formulierend und inhaltlich überzeugend - über Missstände in der Gesellschaft aufregen kann. Widerstandspotenzial enorm gewachsen
Nicht nur umfängliches Wissen, spannende Geschichten und investigative Methodik packt Günter Wallraff an diesem Abend aus. Auch zu vorgerückter Stunde hat er noch viel Zeit dabei, die er exklusiv seiner jungen Zielgruppe widmet und damit zeigt, dass er die Schüler genau so ernst nimmt wie die mehr als 300 Erwachsenen, die zuvor Auszüge aus seinem neuen Buch gehört haben. "Wie kommt Ihre Familie mit Ihrer Arbeit klar?", ist eine der Fragen. Auch da zaudert Wallraff nicht lange und gesteht, dass bereits drei Ehen zerbrochen seien. "Es lässt sich halt schwer vereinbaren", erzählt Wallraff auf dem Hosenboden am Bühnenrand sitzend und spricht von seinen "Schlüsselerlebnissen": Da ist nicht nur die Bundeswehr, wo ihm "Hören und Sehen vergangen" und sein "Widerstandspotenzial" enorm gewachsen sei. Da ist ebenfalls seine Rolle als Bild-Redakteur Hans Esser, die ihn psychisch fast in den Abgrund getrieben habe, und natürlich seine Zeit als türkischer Leiharbeiter Ali Levent bei Thyssen, wo er härtesten körperlichen Strapazen ausgesetzt war. "War es es eigentlich schwer für Sie, von Ali Abschied zu nehmen?", hakt eine Schülerin nach. "Ja", räumt Wallraff ohne große Umschweife ein. Oft habe er von dieser Zeit geträumt, und überhaupt: Ali sei für ihn so etwas wie eine zweite Haut. Ob einer wie Günter Wallraff auch Angst kennt? O ja, auch die ist ihm so vertraut wie die Redaktionsstube der Bild-Zeitung und der Staub verdreckter Industrieanlagen. "Schon als Kind bin ich mit vielen Ängsten aufgewachsen", berichtet das Feindbild vieler deutscher Wirtschaftsbosse und gerät sogar ins Philosophieren: "Was man im Rollenspiel lernt, ist nachhaltiger als alles andere," woraus er folgert: "Wer sich nur auf seine Zufälligkeiten verlässt, ist oft zu früh vollendet. Inzwischen sehe er sich ohnehin als Schlichter, der die Menschen zusammenbringe. Günter Wallraff: "Ich bin eigentlich nicht der Kämpfer. Nur wenn es sein muss!" Gleichwohl darf am Ende die Frage nach seinen Erfahrungen bei McDonalds nicht fehlen: "Waren Sie nach ihrem Job dort noch einmal essen? "Nein", antwortet Wallraff kurz und knapp. "Das macht krank. Das behaupten auch Ernährungswissenschaftler." Trotz zwischenzeitlicher Gebrechen und permanenter Anfeindungen zieht Günter Wallraff zum Schluss ein positives Fazit seiner Arbeit. Denn was es auch gewesen sei: "Es hat immer verdammt viel Spaß gemacht." Spricht's, klemmt seine Reisetasche unter den Arm und macht sich auf den Weg zurück nach Köln. Was ihn dort zurzeit umtreibt, verrät er nicht. Aus gutem Grund. Irgendwann wird man es lesen. Günter Wallraff, Ich - der andere, Reportagen aus vier Jahrzehnten, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3-462-03167-8, acht Euro.