Als Bezahlung gute Noten

JÜNKERATH. Sie ist 80 Jahre alt. Sie hört nicht mehr gut, und ihre Augen wollen auch nicht mehr so recht. Trotzdem kümmert sich Gertrud Nilles nach wie vor jede Woche um Kinder, die Unterstützung beim Lernen brauchen.

Zuerst müssen wir Gertrud Nilles um Verzeihung bitten. Denn: In die Zeitung wollte die Dame aus der Jünkerather "Kefferbach" partout nicht. Da stünden schon genug andere Leute drin. "Die haben es nötig. Ich nicht." Stimmt. Trotzdem: Ihre Geschichte ist einfach zu schön. Denn seit 15 Jahren kümmert sich Gertrud Nilles um Kinder aus der Grundschule, wenn diese Nachhilfe beim Lesen und Schreiben benötigen. Manche betreut sie auch noch darüber hinaus. Die meisten stammen aus der Türkei, aber auch Schützlinge aus Indien, Pakistan und der ehemaligen Sowjetunion waren bislang darunter. Gertrud Nilles arbeitete früher als Haushälterin bei Regionaldekan und Ehrendomherr Paul Schütz, bis zu dessen Tod 1998. Vor rund 15 Jahren seien dann drei Nachbarkinder gekommen, Aussiedler aus Russland, und hätten um Nachhilfe gebeten. "Das waren meine ersten", berichtet Gertrud Nilles. Seitdem hat sie nicht mehr aufgehört. Alles ehrenamtlich, versteht sich: "Meine Bezahlung ist, dass die Kinder weiterkommen", sagt sie. Deshalb werden die aktuell sechs Schützlinge auch meist einzeln unterrichtet, an drei Nachmittagen in der Woche und samstags. Ausnahme: die Winterzeit. Da kommen die Kinder gemeinsam, damit sie früher fertig sind: "Ich will nicht, dass sie im Dunkeln über die Straße müssen." Eine Menge Arbeit - zumal sie nach zwei Innenohr-Infarkten beiderseits Hörgeräte trägt. "Und ich sehe schlecht. Daher habe ich eine Lupe." Sie werde vielleicht doch langsam ein bisschen reduzieren müssen, meint sie. "Ich bin 80 1/2 Jahre alt. Das will was heißen!" Dennoch wird Gertrud Nilles unterrichten, so lange sie kann. Dafür ist sie einfach mit zu viel Liebe dabei. Man muss nur einmal die Herzlichkeit erleben, mit der sie die Kinder behandelt: An diesem Tag sind es der 14-jährige Mehmet, die elfjährige Fatma, die gleichaltrige Ebru und Hakan, mit sieben Jahren der Jüngste. Nein, ihre Lehrerin sei "nie böse", erzählen die Kinder. Und dass sie schon viel gelernt hätten. Natürlich haben sie die alte Dame richtig gern: "Mmm-hmmm!", macht Hakan und strahlt. Er ist seit den Sommerferien dabei - und liest bereits prima. "Das macht so einen großen Spaß. Oh ja - vor allem, wenn es gut weitergeht. Schlechte Noten habe ich nicht so gern", bekennt Gertrud Nilles. "Dann denke ich immer, ich habe versagt." Von Versagen kann hier keine Rede sein. Werner Kandels, früher Konrektor der Jünkerather Grundschule und seit einem Jahr pensioniert, ist deshalb auch voll des Lobes über seine 80-jährige Kollegin. Weil sie ihre Arbeit großartig mache - "und das alles ohne irgendein Entgelt." Aber mit viel Engagement: Gertrud Nilles habe immer engen Kontakt zu den Klassenlehrern der Kinder gehalten, um zum Beispiel das richtige Lern- und Arbeitsmaterial zu wählen. Kandels entgeht die Ironie der Sache nicht: "Das ist doch toll. Die ehemalige Haushälterin eines katholischen Priesters bemüht sich um Schul- und Lernerfolge moslemischer Kinder." Das findet auch Gertrud Nilles. Und als vor knapp fünf Jahren "die schrecklichen Dinge in Amerika" passiert seien, da hat sie mit den Kindern zusammen gebetet - jeder auf seine eigene Weise. Recht so. Besonders angesichts der Integrationsdebatte im Land. "Was Frau Nilles macht, ist wirklich imponierend", sagt Werner Kandels. "Das ist Integration."

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