Bomben in kalter Nacht

Gegen Ende des Krieges wurde die Ernährungslage in Köln, wo meine Eltern mit uns fünf Kindern lebten, immer schlechter. So lebten meine Mutter, meine beiden vier- und zweijährigen Schwesterchen und ich (damals sieben Jahre) Ende 1944 bei Verwandten in Schlausenbach im Kreis Prüm am Fuße des Schneifelrückens, ganz nah am Westwall. Die amerikanischen Streitkräfte nahmen unser Dorf im September '44 in einem Handstreich ein. Als sich dann Anfang Dezember Truppen der deutschen Wehrmacht zur "Ardennenoffensive" formierten, evakuierten die Amerikaner das gesamte Dorf nach Amelscheid in Belgien - bis auf wenige Männer, die zurückbleiben mussten, um das Vieh zu versorgen. In Belgien hausten die Einwohner von Schlausenbach zusammengepfercht in einer Baracke. Es gab anfangs wenig zu essen, und auch die wenige Kleidung, die wir hatten, war bald aufgebraucht. Das änderte sich aber, als die belgische Presse einige Male recht deutlich auf den Missstand hingewiesen hatte und vom Flüchtlingselend schrieb. Da gab es dann Konserven, aus denen die Frauen köstliche Gerichte zauberten. Ich erinnere mich auch noch deutlich, dass eines Tages ein riesiger Militär-Lastwagen voll geladen mit Wäschestücken seine Ladung vor die Baracke kippte. Da flogen Unterhemden, Schlüpfer, BHs und dergleichen bunt durcheinander, und jeder versuchte, für sich verwendbare Teile zu ergattern. Die Deutschen kamen mit ihrer Offensive zunächst zügig Richtung Belgien voran. Darum evakuierten die Amerikaner uns Mitte Dezember weiter nach St. Vith. Dort wurden wir in Kellergewölben am Bahnhof untergebracht. Eines Tages tauchten deutsche Soldaten bei uns im Keller auf. Bald darauf kam der Vormarsch der deutschen Truppen zum Stillstand, und St. Vieth geriet unter heftigen Beschuss durch die Alliierten. Das war für meine Mutter das Signal: Sie wollte nicht länger bleiben, "um lebendig begraben zu werden", wie sie sagte. Durch einen Schacht krabbelten wir, bis meine Schwestern, meine Mutter und ich das Freie erreicht hatten und durch Bomben- und Granatenhagel versuchten, die Stadt zu verlassen. Die Straßen waren voll mit deutschen Soldaten, die sich auf dem Rückzug befanden. Ein Offizier brüllte meine Mutter an, sie solle sich zurück in einen Luftschutzkeller scheren."Mutter bedeckte uns mit ihrem Körper"

Meine Mutter ließ sich aber davon nicht einschüchtern: Befehle könne er seinen Soldaten erteilen, und sie denke gar nicht daran, wieder in einen Keller zu gehen, sagte sie. Vielmehr werde sie die Stadt verlassen, und wenn er ein richtiger Mann sei, würde er ihr helfen. Das beeindruckte den Soldaten offenbar so sehr, dass er einen Wagen mit offener Ladefläche, der Richtung Bleialf-Auw fuhr, anhielt, und dem Fahrer befahl, uns mitzunehmen. Es war eine helle, kalte Winternacht, und so hatten uns auch bald die Tiefflieger der Alliierten entdeckt; wir wurden ständig angegriffen. Sobald das Motorengeräusch eines Jagdbombers anschwoll, warfen wir uns in den Straßengraben, und meine Mutter bedeckte uns mit ihrem Körper. Der Fahrer sprang, wenn der Spuk vorbei war, auf, und probierte, ob der Wagen noch anging. Wir enterten die Ladefläche, sobald wir das Motorengeräusch hörten. So ging das viele Male, bis wir endlich ein Haus erreichten, wo entfernte Verwandte von uns wohnten. Eine alte Dame öffnete die Tür. Als sie uns Kleine, vor allem meine kleinen Schwesterchen, sah, sagte sie in ihrem breiten Eifeldialekt: "Oh, welle könnt dat Chrestkond ävver noch bie mech (Nun kommt das Christkind aber doch noch zu mir)." Da wurde uns, vor allem meiner Mutter, erst bewusst, dass heute der 24. Dezember, die Heilige Nacht war, und wir begannen zu weinen. Später in der warmen Stube erhielten wir Kinder einen "Knupp", ein Stück braunen Kandiszucker, das in seinem Inneren mit einem Stück Kordel zusammengehalten wurde; die einzige Süßigkeit, die es gelegentlich gab. Am nächsten Tag sahen wir, wie St. Vith heftig bombardiert wurde und brannte. Viele, die in den Kellergewölben geblieben waren, fanden dort den Tod. Albert Eichten lebt heute im Krähenweg 48 in 50829 Köln.

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