Brot, Trockenmilch und ein kleines Püppchen

Für mich war das Weihnachtsfest 1944 ein erschütterndes, tief unter die Haut gehendes und ergreifendes Erlebnis. Damals war ich neun Jahre alt und habe die Ereignisse sehr intensiv erlebt. Im September 1944 hatten die Amerikaner die Frauen und Kinder aus meinem Heimatort Buchet nach Belgien evakuiert, und zwar ganz ohne Gepäck. Wir hatten nur die Sachen, die wir anhatten. Schloss Wallerode, St. Vith-Post und zuletzt St.Vith-Rosenhügel waren unsere Zufluchtsorte. Am Heiligen Abend waren wir wegen der Luftangriffe fast den ganzen Tag im Keller. Gegen 16 Uhr beschlossen die Mütter, sich mit ihren Kindern an die Hauptstraße in St. Vith, auf der die deutschen Soldaten abgekämpft von der Ardennen-Offensive auf dem Rückzug waren, zu stellen, um von den Soldaten dann mit nach Deutschland genommen zu werden. Es hielten auch einige Laster an und ließen uns Flüchtlinge auf die offene Ladefläche zu den abgekämpften Soldaten zusteigen. Weil wir so eng zwischen den Soldaten standen, konnten wir die Kälte etwas besser ertragen.Der Treck kam nur sehr langsam über die zerschossene Straße vorwärts, weil immer wieder wegen der Flieger gestoppt werden musste. Leuchtgeschosse erhellten den Himmel. Das war eine gespenstische Helligkeit! Mein kleiner Bruder rief dann immer wieder ganz laut: "Mutti, Mutti, alt erem en Chrestboom" (Mutti,Mutti, schon wieder ein Christbaum). Auf diese Weise dauerte unsere Fahrt mehr als zehn Stunden. Nachts, so zwischen zwei und drei Uhr, kamen wir tatsächlich in Buchet an.Im Haus meiner Tante ließen fünf Offiziere, die sich für die Nacht dort einquartiert hatten, uns eintreten. Dort durften wir auf dem Fußboden bis zum Morgen schlafen. Meine Geschwister, sechs und vier Jahre alt, und ich hätten morgens gerne etwas zu essen gehabt, aber meine Mutter hatte ja nichts für uns. Und das am Weihnachtsmorgen! Die Soldaten hatten auch nichts zu beißen. Meine kleine Schwester fing an zu weinen. Einer der Soldaten ging raus. Meine Mutter wusste nicht mehr, wie sie uns beruhigen sollte. Da kam der Soldat von draußen wieder herein und hatte eine Dose Trockenmilch, ein verschimmeltes Kommissbrot und ein kleines nacktes Püppchen im Arm. Und diese drei Dinge schenkte er uns. Das waren die besten und schönsten Weihnachtsgeschenke, die wir Kinder jemals erhalten haben. Meiner Mutter liefen vor lauter Rührung Tränen über das Gesicht.Von den Soldaten erfuhren wir dann noch, dass St. Vith in Flammen stünde. Da wurde meiner Mutter und mir bewusst: Wir hatten nicht nur an Weihnachten etwas zu essen, sondern hatten in der Heiligen Nacht vom Christkind auch noch unser nacktes Leben geschenkt bekommen. Anni Backes stammt aus Buchet. Sie lebt heute in Winringen

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