Bruder Lothar Wagner verbringt acht Jahre in Sierra Leone

Aach/Freetown · Als Leiter einer Kinder- und Jugendeinrichtung der Salesianer Don Boscos war Lothar Wagner in Afrika. Im Interview spricht er über das Leid, das der Virus Ebola über das Land bringt. Dabei kritisiert er die Weltgemeinschaft scharf.

Bruder Lothar Wagner verbringt acht Jahre in Sierra Leone
Foto: Markus Sterr (h_tl )

Aach/Freetown. Lothar Wagner wurde am 21. September 1973 in Trier geboren. Aufgewachsen ist er in Aach bei Trier. Der studierte Diplom-Sozialpädagoge und Diplom-Theologe trat im September 1993 in die katholische Ordensgemeinschaft der Salesianer Don Boscos (siehe Extra) ein. Einsatzorte des ,,Bruders" waren unter anderem zwei deutsche Brennpunkte: Köln-Mülheim und Berlin-Marzahn. Im September 2008 ging Wagner nach Freetown in Sierra Leone. Dort in der Hauptstadt leitete er die größte Kinder- und Jugendeinrichtung des Landes mit dem Namen ,,Don Bosco Fambul". Diese hatte maßgeblichen Anteil an der landesweiten Ebola-Aufklärungsarbeit und der Betreuung von Ebolawaisen. Im Juli ist Wagner nach Aach zurückgekehrt. Im TV erzählt Wagner von seinen Erlebnissen.

Herr Wagner, sind Sie froh, wieder in Deutschland zu sein?
Lothar Wagner: Die Heimkehr tut gut. Ich bin froh, meine Eltern, Geschwister und Freunde wiederzusehen. Aber mein Zuhause ist Gott. Von ihm komme ich und zu ihm gehe ich.

Sie sind im Jahr 1993 den Salesianern Don Boscos beigetreten. Was hat Sie damals dazu bewegt, einem Orden beizutreten?
Wagner: Während der Oberstufenzeit war ich stark in der Friedensbewegung engagiert. Besonders aktiv habe ich mich an den Mahnwachen auf dem Trierer Hauptmarkt gegen den Ersten Irakkrieg im Januar 1991 beteiligt. Zwischendurch war ich bei den Jusos und Attac aktiv. Themen wie Frieden und Gerechtigkeit haben mich immer interessiert und zwar radikal und konsequent, aber nicht ideologisch und fundamentalistisch. Dann habe ich mit 19 Jahren einen Ordensbruder kennengelernt, der als Bäckermeister auf dem Helenenberg mit verhaltensauffälligen Jugendlichen gearbeitet hatte. Das hat mir sehr imponiert. Ich wollte ,,genau so sein". Erst später setzte ich mich mehr mit meiner eigenen Gotteserfahrung und meiner Beziehung zu Gott auseinander, was ja die tragende Säule einer jeden geistlichen Berufung ist.

2008 sind Sie nach Sierra Leone gegangen. Wieso gerade dieses Land?
Wagner: Ich hatte um einen Einsatzort in einem der ärmsten Länder der Welt gebeten, woraufhin die Ordensleitung in Rom mir Sierra Leone zugewiesen hat.

Was genau war Ihre Aufgabe?
Wagner: Ich war Leiter der größten Kinder- und Jugendeinrichtung in Sierra Leone. Wir haben dort 121 Mitarbeiter für fast 2000 Kinder und Jugendliche in Not. Unsere Hilfe war vielfältig: Straßensozialarbeit in der Nacht mit einem umgebauten Linienbus der Stadtwerke Trier, stationäre Rehamaßnahmen, Familienberatung, landesweite Telefonberatung und Gefängnisarbeit mit sogenannten Knastkindern. Darüber hinaus unterhielten wir ein Mädchen- und Frauenhaus.
Sie waren ja zur Zeit der Ebolaepidemie im Land. In welcher Form hatten Sie mit dem Virus und seinen Auswirkungen zu tun?
Wagner: Selber infiziert war ich nicht. Zu Beginn der Pandemie haben wir unsere Aufklärungsarbeit über Symptome und Schutzprävention massiv ausgeweitet. Mit Verlauf der Seuche wandelte sich unsere Arbeit zunehmend und ausschließlich in Krisenintervention. Zu normalen Zeiten ist unsere Telefonzentrale mit drei Personen rund um die Uhr besetzt. Auf dem Höhepunkt der Ebolakrise waren es 48 Mitarbeiter. Die Don-Bosco-Telefonberatung wurde zur nationalen Registrierungsstelle für Ebolawaisen und ehemals infizierte und nun stigmatisierte junge Menschen.Von hier aus wurden Notstände identifiziert und Hilfen organisiert. Auf Wunsch der lokalen Regierung sowie aus der Not heraus hatten wir eine unserer Schulen in ein Therapiezentrum für betroffene Kinder mit 150 Plätzen umgebaut, das einzige Zentrum in ganz Sierra Leone.
Wie sind die Menschen in dem Land mit dem Virus umgegangen?

Wagner: Je nach Zeit und Ort unterschiedlich. Zu Beginn wurde die Situation leichtsinnig unterschätzt, dann sträflich verleugnet. Es gab traditionelle Hexenkulte und politisch motivierte Vorwürfe. Das alles gipfelte in einer depressiven Niedergeschlagenheit, die die Menschen erfasste. Das machte die Aufklärungsarbeit äußerst schwierig.
Wie hat die Epidemie das alltägliche Leben und die öffentliche Ordnung verändert?
Wagner: Die Menschen waren alle verschreckt und verängstigt. Viele trauten sich nicht mehr vor die Tür. Kein Körperkontakt, kein Händeschütteln. Das ging über ein ganzes Jahr so. Viele meinten, es sei wie damals im Rebellenkrieg, nur sei der Feind diesmal unsichtbar. Die ersten Ebolatoten gab es in Krankenhäusern. Daher mieden die Menschen die Krankenhäuser auch bei leichter behandelbaren Erkrankungen wie Malaria. Ärzte und Krankenpfleger quittierten ihren Dienst. Öffentliche Ansammlungen wurden verboten, Schulen und Universitäten geschlossen. Spielplätze waren völlig verwaist. Das Land erlebte einen wirtschaftlichen Einbruch, der bis heute sichtbar und spürbar anhält.
Was war für Sie das einprägendste Erlebnis?
Wagner: Unsere Einrichtung hatte während der Ebolazeit eine deutlich höhere Aufnahme von vergewaltigten Mädchen. Eine Kultur der Straflosigkeit machte sich breit, da Polizei und Justiz im Kampf gegen die Ebola eingebunden war. Dadurch wurden keine Ermittlungen mehr durchgeführt. Besonders viele junge Mädchen wurden Opfer von Gruppenvergewaltigungen. Besonders hart und prekär für uns war, dass die vergewaltigten Mädchen in der Regel die gleichen Symptome zeigten wie Ebolainfizierte: hohes Fieber, starke Blutungen und Übelkeit. Daher gab es in der Ebolazeit immer wieder Verzögerungen bei der Notaufnahme. Denn wir mussten sicherstellen, dass keine Infizierten in die Einrichtung gelangten. Bei einem zehnjährigen Mädchen wurde durch ein Labor Ebola diagnostiziert. Wir verabreichten Schmerzmittel und isolierten sie, bis sie starb. Später stellte sich heraus, dass das Mädchen nicht infiziert war, sondern vergewaltigt worden war.
Wie kamen bzw. kommen Sie persönlich damit zurecht, so viel Leid auf einmal gesehen zu haben?

Wagner: Wir haben in Ebola-Behandlungszentren psychosoziale Betreuung geleistet. Am Anfang bin ich nachts mit den schrecklichen Bildern von Dahinsiechenden ins Bett gegangen. Nach wenigen Tagen war der Schrecken vor Tod und Leid weg. Viel Zeit zum Nachdenken blieb uns wegen der vielen Kriseninterventionen ja nicht. Heute kommen die Bilder wieder zurück. Erst neulich im Trierer Stadtbad beim Geruch von Chlor. Mit Chlor wurden in Sierra Leone die Häuser und auch die Leichen desinfiziert. Das Schwimmbad habe ich daraufhin verlassen.
Sierra Leone ist weitestgehend aus den Medien verschwunden. Wie ist die Lage zurzeit?
Wagner: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich ja beeilt, Sierra Leone als ebolafrei zu deklarieren. Wenn man darunter nur die Abwesenheit des Virus versteht, mag das ja stimmen. Die Erklärung gibt aber leider den verheerenden Eindruck, dass alles wieder gut ist. Aber das ist es nicht. Die Menschen sind alles andere als gesund. Nach wie vor leidet das Land enorm unter den Auswirkungen. Fast jede Familie ist betroffen, entweder durch Einkommensverluste oder Todesfälle. Der Virus hat viele traumatisierte junge Menschen hinterlassen. Die Marktpreise sind enorm gestiegen, weil es hohe Ernteausfälle zu beklagen gibt. Viele arbeitssuchende Menschen haben ihre Hoffnung verloren. Die Ebola sowie das Versagen der Weltgemeinschaft hat neue Fluchtursachen geschaffen.
Sie sprechen vom Versagen der Weltgemeinschaft? Was genau meinen Sie damit?

Wagner: Das totale Versagen der Internationalen Gemeinschaft vor Ort war für mich das frustrierendste Erlebnis in meinem gesamten Leben. Eine Geberkonferenz hatte ja ursprünglich mal drei Milliarden Euro zugesagt. Nur ein Bruchteil ist angekommen und das wenige, was ankam, erreichte nicht die Notleidenden. Die großen Gewinner sind die vielen Regierungsbeamten, Autohersteller, Hoteliers und die aus der ganzen Welt eingeflogenen Experten, die horrende Gehälter erhalten. Es wurden kaum effektive Hilfsprojekte durch die WHO oder andere UN-Organisationen wie UNICEF umgesetzt. Umso wichtiger waren die lokalen Hilfsorganisationen, deren Mitarbeiter unermüdlich im Einsatz waren. Da war es entscheidend, dass die deutsche Bevölkerung diese Organisationen unterstützt hat. Besonders die Hilfsbereitschaft im Trierer Raum war enorm wichtig für viele Kinder.
Was muss in Ihren Augen verbessert werden?
Wagner: Wir benötigen viel mehr Zusammenarbeit und Transparenz. Sobald eine Krise ausbricht, gibt es unter den großen Hilfsorganisationen ein Wettrennen um die Spendengelder. Für viele steht das Wohl der Organisation und nicht der Mensch im Mittelpunkt. Es ist kaum überprüfbar, ob die Organisationen dann auch das leisten, worüber sie berichten und wofür sie die Hilfsgelder erhalten haben. Keiner lässt sich da in die Karten schauen. Es besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen guter Absicht und rauer Wirklichkeit. Dazu gibt es eine zum Himmel schreiende Korruption. UN-Organisationen schweigen darüber, weil sie kein Interesse daran haben, dass bekannt wird, dass ihre lokalen Partner mitsamt der Regierung ihre Gelder zweckentfremden. Die lokalen Akteure loben natürlich die UN, schließlich laufen deren Gelder ja in ihre Taschen. Die Bedürftigen bleiben auf der Strecke. Ein verhängnisvolles System mit einem stillschweigenden Abkommen.
Am 7. Oktober besucht Lothar Wagner seine Mitbrüder auf dem Helenenberg. Dort schildern er und Pater Jorge Crisfulli allen Interessierten ab 19 Uhr ihre Erlebnisse aus Sierra Leone.Extra

 Bruder Lothar Wagner erklärt Kindern in Freetown (Sierra Leone) an Hand von Zeichnungen auf einem Plakat, wie sie sich vor Ebola schützen können.

Bruder Lothar Wagner erklärt Kindern in Freetown (Sierra Leone) an Hand von Zeichnungen auf einem Plakat, wie sie sich vor Ebola schützen können.

Foto: Jörg Löffke (e_eifel )

Die Salesianer Don Boscos wurden 1859 in Turin vom Priester Giovanni Bosco (1815-1888), Don Bosco genannt, gegründet. In der Zeit der Industrialisierung kümmerte er sich in der norditalienischen Stadt um Straßen- und Knastkinder. Er baute Ausbildungs- und Freizeiteinrichtungen für die benachteiligten Jugendlichen auf. Heute ist der Orden mit Hauptsitz in Rom nach den Jesuiten der zweitgrößte Männerorden mit 15 000 Ordensmännern in 132 Ländern. Im Einzugsbereich des TV sind besonders drei Werke bekannt: das Jugendhilfezentrum Don Bosco auf dem Helenenberg, das Don-Bosco-Jugendwerk in Trier-West sowie die Jugendbildungsstätte in Jünkerath. rot

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