Jugendhilfe Die letzte Schwester verlässt das Sankt-Vinzenhaus in Speicher

Speicher · Es war ein harter Schlag für Oberin Daniela, als sie von Berlin nach Speicher versetzt wurde. 30 Jahre später fällt ihr das Verlassen des Sankt-Vinzenzhauses genauso schwer wie einst der Abschied aus der Großstadt.

 Oberin Daniela Müller steht auf der Dachterrasse über dem Sankt-Vinzenzhaus. Von hier oben hat sie die ganze Einrichtung im Blick, in der sie 30 Jahre lang gearbeitet hat.

Oberin Daniela Müller steht auf der Dachterrasse über dem Sankt-Vinzenzhaus. Von hier oben hat sie die ganze Einrichtung im Blick, in der sie 30 Jahre lang gearbeitet hat.

Foto: TV/Christian Altmayer

Schwester Daniela Müller sitzt vor dem Fernseher. Es läuft eine Dokumentation über die Eifel. Die Gegend erscheint ihr wie ein fernes Land. Die Ordensschwester arbeitet 1987 in einem Heim in Berlin. Und sie lebt gern in der Großstadt. An manchen Abenden lauscht sie den Philharmonikern. „Speicher ist ein Ort, in dem sich Hase und Igel Gute Nacht sagen“, sagt der Sprecher im Film. Sie ahnt nicht, dass der Orden sie nur zwei Tage später dorthin, ins Sankt-Vinzenzhaus, entsenden wird.

Als sie den Brief öffnet, die ersten Zeilen liest, denkt sie: „Bitte nicht!“ Das sei ein Schock gewesen, sagt sie heute. Aber sie hatte versprochen, überall hinzugehen, wo sie gebraucht werde. Also tritt die Schwester die Reise an. Als sie im Auto sitzt, nur noch drei Kilometer von Speicher entfernt, wünscht sie sich, es wären noch 30.

Heute ist sie längst angekommen. Das Sankt-Vinzenzhaus nennt die 79-Jährige heute ihr Zuhause. Am 15. Januar wird sie dieses Zuhause verlassen. Sie ist eine der beiden letzten Schwestern, die noch in Speicher leben und arbeiten. Der Orden entsendet sie nach Nordrhein-Westfalen.

Der Kulturschock

In Speicher gibt es keinen Stadtverkehr, keine U-Bahn, keine Philharmoniker. Es gibt nur Wälder - grüne, weite Wälder. Genau die lernt sie mit der Zeit zwar zu schätzen. Schließlich sei sie sehr naturverbunden. Trotzdem fällt ihr das Leben hier anfangs schwer. Sie vermisst Berlin. Vor den Schwestern und den Kollegen schwärmt sie in den ersten Wochen und Monaten noch oft von der Metropole. Das Berlinern hat sie sich auch nach 30 Jahren nicht so recht abgewöhnen können. Noch heute sagt sie „jemacht, jebraucht, jefallen.“ Trotzdem hat sich einiges geändert. Sie fühlt sich wohl im Sankt-Vinzenzhaus.

Die gute Seele

Dabei wohnt sie hier seit Jahren nur auf wenigen Quadratmetern, in einem einfachen Zimmer. Ihr reicht das. Die meiste Zeit verbringt sie ohnehin mit den Kindern. Sie kümmert sich um sie, weil sie aus verschiedensten Gründen –vorübergehend oder längerfristig- nicht bei ihren Eltern wohnen können. Untergebracht werden sie vom Jugendamt.

Die Arbeit mit den Kindern hält Daniela Müller jung. Wer mit der Oberin spricht, glaubt nicht, dass sie schon auf die 80 Jahre zugeht. Stimme und Augen sind so voll von Leben wie bei einer Jugendlichen.

Seit 2004 ist sie stellvertretende Leiterin der Einrichtung. Das heißt: Sie kümmert sich nicht mehr in erster Linie um die Kinder in den Gruppen, sondern um organisatorische Dinge, „das, was so anfällt“. Man kann sie sich als eine Art gute Seele des Hauses vorstellen. Jeder hier kennt sie und schätzt sie. Das wird beim Rundgang durch das Haus deutlich – wie sie mit den Kindern und den Mitarbeitern über Alltägliches plaudert. Bei allem, was sie tue, halte sie sich an ihren Leitspruch: „Liebe sei Tat“, sagt sie. Es ist ein Zitat des Ordensgründers Vinzenz von Paul. Gelernt hat sie den Spruch schon in jungen Jahren.

Ein folgenschwerer Entschluss

Nach einer Lehre als Hauswirtschaftsgehilfin in Köln arbeitet die damals 17-Jährige in einem Heim in Euskirchen. Die Einrichtung wird von den Vinzentinerinnen betrieben. Für die junge Frau aus Niedersachsen ist zu dieser Zeit noch nicht klar, dass sie Schwester werden will. „Obwohl meine Geschwister schon immer sagten, dass ich anders bin“, meint sie heute, dass es die Zeit in der Nordeifel war, die sie geprägt habe.

Dort trifft sie eine Schwester, deren Umgang mit den Kindern sie fasziniert. Sie sei liebevoll, und doch konsequent gewesen. Also lernt man sich kennen, spricht über dies und jenes, auch über Gott und das Leben als Schwester.

Bis 1962 bleibt sie dort. Mit 24 Jahren tritt sie in den Orden ein und absolviert eine Ausbildung zur Heimerzieherin. Eine folgenschwere Entscheidung, mit der ihre Familie und Freunde anfangs schwer zurechtkamen. Den Entschluss, Vinzentinerin zu werden, habe sie aber nie bereut, sagt sie.

Es sei eben ihre Berufung gewesen, für die Kinder da zu sein. Eine Aufgabe, die für ein Leben reicht. Das weiß sie bereits, als sie als junge Frau ihr Postulat – eine Art Probezeit für den Eintritt in einen Orden – in Bad Godesberg bei Bonn antritt.

Wie es der Zufall will, wird sie dorthin, wo ihr Leben als Ordensschwester begann, im Januar zurückkehren. Das dortige St.-Vinzenzhaus ist ein Pflegeheim für alte Menschen.

Abschied von der Heimat

Mit 79 sind viele schon seit einem guten Jahrzehnt im Ruhestand. Daniela Müller übernimmt in Bad Godesberg wieder den Posten der Oberin.

Was sie sich vor 30 Jahren nicht vorstellen konnte: Der Abschied aus Speicher fällt ihr heute genauso schwer, wie damals der Weggang aus Berlin. „Ich muss ein Stück Heimat aufgeben“, sagt sie. Ohne ihre Beziehung zu Gott würde sie das nicht auf sich nehmen – da ist sie sicher. Ein weiteres Mal geht die Schwester dorthin, wo sie gebraucht wird. Im Vinzenzhaus geht der Betrieb von Heim und Kindertagesstätte auch ohne Daniela Müller weiter.

„Leitung und Mitarbeiter werden die Einrichtung in unserem Sinne gut weiterführen“, stellt sie klar. Und doch wird der Abschied für alle Beteiligten schwer werden.

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