"Es ist nie zu spät für eine Versöhnung"

Bitburg · Als Hanna Miley ihre Eltern das letzte Mal gesehen hat, war sie sieben Jahre alt. Sie war eines von 10 000 jüdischen Kindern, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach England gebracht wurden und deren Leben dadurch gerettet wurde. Auf Einladung der Evangelischen Kirchengemeinde in Bitburg hat die heute 80-Jährige, die inzwischen in Arizona lebt, aus ihrem darüber verfassten Buchmanuskript vorgelesen.

 Hanna Miley berichtet in Bitburg über ihre Erlebnisse als jüdisches Mädchen in Gmünd. Werner Martin aus Trier übersetzt vom Englischen ins Deutsche. TV-Foto: Uwe Hentschel

Hanna Miley berichtet in Bitburg über ihre Erlebnisse als jüdisches Mädchen in Gmünd. Werner Martin aus Trier übersetzt vom Englischen ins Deutsche. TV-Foto: Uwe Hentschel

Bitburg. "Ich habe das Bild vor Augen, wie ich in der Synagoge sitze mit baumelnden Beinen", sagt Hanna Miley. Und sie erinnere sich noch daran, wie der Zeigestock bei der Thoralesung das Sonnenlicht reflektiert habe. Und an die bunten Bonbons, die zum Schluss des Bar-Mizwa-Fests von oben herabgeworfen worden seien. Doch Hanna Miley hat auch andere Erinnerungen an die Synagoge in Gmünd. Erinnerungen an Männer, die sich zunächst in der engen Mühlengasse versammelt hätten, dann in die Synagoge eingedrungen seien, dort alle Schätze geklaut und anschließend das Gotteshaus in Brand gesetzt hätten. Und die Feuerwehr habe daneben gestanden und nichts unternommen.
Das war die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die Reichspogromnacht. Es klinge ungewöhnlich, sagt Hanna Miley. "Doch die Ereignisse jener Nacht haben mein Leben gerettet."
Fast auf den Tag genau 73 Jahre später sitzt die heute 80-Jährige im Casino der Kreissparkasse Bitburg-Prüm, um über ihre Erlebnisse von damals zu berichten. Darüber, wie sie als Siebenjährige mit 10 000 anderen jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei im sogenannten "Kindertransport" (siehe Extra) nach England gebracht worden sei. Und auch darüber, wie sie ihre Eltern am Kölner Bahnhof zum letzten Mal gesehen habe. Sie erinnere sich noch ganz genau an den riesigen "4711"-Reklameschriftzug an der Bahnsteighalle. "Und als ich mich umwandte, um mich von meinen Eltern zu verabschieden, sah ich, dass sie weinten", sagt Hanna Miley. "Da auf einmal hatte ich eine schreckliche Vorahnung."
In England angekommen, wurde das Mädchen bei einer Familie untergebracht. Für die Deutschen war sie eine Jüdin, für die Engländer eine Deutsche. "Die Menschen in England hatten damals Angst vor allem, was irgendwie deutsch war", sagt die 80-Jährige, "deshalb habe ich mich sehr bemüht, englisch zu werden, und dabei meine Wurzeln verloren." Ihre Pflegeeltern hätten sich zwar um sie gekümmert, eine innige Beziehung sei jedoch nie entstanden. Als Hanna Miley zwölf ist, bekommt sie einen Brief vom Roten Kreuz. Darin steht, dass die Eltern tot sind.
Buch erscheint im Frühjahr


Heute lebt die 80-Jährige mit ihrem Mann in Phoenix, Arizona. Sie hat ein Buch geschrieben über ihre Geschichte. Im Frühjahr soll es erscheinen. Zunächst in Englisch und im Lauf des Jahres auch in deutscher Übersetzung. In Bitburg liest sie einige Passagen aus dem fertigen Manuskript vor. 90 Zuhörer verfolgen gebannt die Schilderung ihrer Erlebnisse und stellen Fragen. Sie wollen wissen, wie es in England weiterging und was sie empfand, als die Eltern sie in den Zug gesetzt haben. Sie habe sich damals im Stich gelassen gefühlt, sagt Hanna Miley. "Doch heute weiß ich, dass es ein Akt hingebungsvoller Liebe war." Jeder, der selbst Kinder habe, wisse, was es bedeute, eine solche Entscheidung zu treffen.
Vor einigen Jahren sei sie mit ihrem Mann und acht Freunden den letzten Weg der Eltern nachgegangen. Bis in das Waldstück in Polen, wo die Eltern zusammen mit vielen anderen Juden ermordet wurden. "Diese Reise war wichtig für mich, weil ich mich innerlich so lange von ihnen getrennt hatte", sagt Hanna Miley. Überhaupt sei es wichtig für sie gewesen, nach Deutschland zurückzukommen. Sie empfinde keinen Hass mehr und habe mittlerweile viele Freunde in Deutschland. Und darüber hinaus neben der englischen Staatsbürgerschaft vor wenigen Jahren bewusst die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Um ein Zeichen zu setzen, erklärt sie. "Viele von uns haben die Erfahrung von Entfremdung gemacht, aber es ist nie zu spät", sagt die 80-Jährige. "Es ist nie zu spät für eine Versöhnung."
Extra

Kindertransport: Nachdem die Novemberpogrome gegen die jüdische Bevölkerung in der Nacht des 9. November 1938 der Weltöffentlichkeit die tödliche Situation der Juden in Deutschland drastisch vor Augen führten, hat das Parlament in Großbritannien auf Drängen der jüdischen Gemeinde reagiert und die Einreisebestimmungen geändert. So wurden von Ende November 1938 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 10 000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei aufgenommen. Die Jüdische Gemeinde übernahm dafür die Kosten und verpflichte sich darüber hinaus, Pflegefamilien für die Kinder zu organisieren. Später sollten diese Kinder wieder mit ihren Familien vereint werden und eine neue Heimat in Palästina finden. Die meisten Kinder jedoch sahen ihre Eltern nie wieder. Sie waren oft die Einzigen aus ihren Familien, die den Holocaust überlebt hatten. uhe

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