Flucht ins Ungewisse

PRÜM. Heute vor 60 Jahren überschlugen sich in Prüm die Ereignisse: Der Kanonendonner der im Westen vorstoßenden Alliierten war nicht mehr zu überhören. Am 16. September 1944 wurde die Stadt endgültig geräumt.

Ein denkwürdiger Tag für die Bürger der Stadt Prüm: Amerikanische Kampfverbände standen im September 1944 bei Winterspelt-Hemmeres unmittelbar an der Grenze. Deutsche Einheiten befanden sich teilweise auf dem Rückzug, um sich östlich von Prüm neu zu formieren. In dieser Situation ordneten Landrat Schlemmer und Stadtbürgermeister Albert Mangold am 11. September 1944 die sofortige Evakuierung der Häuser an. Wenige Tage später, am 16. September, schlugen die ersten amerikanischen Granaten im Stadtgebiet ein - der Anfang vom Untergang der Abteistadt. Bekannt gegeben wurde der Räumungsbefehl vom städtischen Ausscheller und auf kleinen Zetteln an einigen markanten Stellen der Stadt. Später tönte er auch aus einem mobilen Lautsprecher. Kaum einer war auf die vollständige Räumung vorbereitet. Erst einen Tag zuvor waren die letzten Schanzarbeiter - alte Männer und Jugendliche, die noch nicht Soldat waren - aus dem Saargebiet zurück gekommen. Mit Schaufel und Hacke hatten sie dort Schützengräben und Flak-Stellungen ausgehoben. Zu Hause ging es derweil hektisch ans Kofferpacken und ab zum Prümer Bahnhof. Nur das Notwendigste durften die Menschen auf der Flucht mitnehmen. Der erste Transport verließ am 12. September 1944 den Bahnhof. Weitere Transporte ins Ungewisse folgten. In den Abteilen herrschten Furcht und Panik. Kaum einer wusste genau, wo es hin gehen sollte. Vom Westerwald und dem Kreis Altenkirchen war die Rede. Drei Personenwagen eines Zugs landeten aber im Harz. Die meisten Transporte führten von Gerolstein nach Köln. Am anderen Tag ging es verspätet weiter, weil feindliche Tiefflieger angesagt waren. Bis die Zielbahnhöfe Altenkirchen, Wissen, Betzdorf, Kirchen und Niederschelden erreicht waren, dauerte es meist zwei Tage. Viele hatten Glück und bekamen in Altenkirchen und Umgebung oder in Betzdorf und Kirchen gute Quartiere. Aber nicht überall wurden die Prümer Flüchtlinge freundlich empfangen. Es gab aber auch viele Prümer, die von einem Abtransport per Eisenbahn nichts wissen wollten. Sie widersetzten sich der Evakuierung in der trügerischen Hoffnung, die Amerikaner würden die Stadt bald besetzen. Etwa 150, vorwiegend Frauen und Kinder, zogen sich in den Gewölbekeller der alten Abtei zurück, zusammen mit dem Prümer Dechanten Johannes Theis. Andere suchten Schutz im Westwallbunker am Kalvarienberg und einem Forsthaus im Tettenbusch.Granaten schlagen 50 Mal ins Abteigebäude ein

Schlagartig verschärfte sich die Situation, als am 16. September 1944 um 10 Uhr die ersten amerikanischen Granaten im Stadtgebiet einschlugen und bis zum Abend bereits 50 Mal das Abteigebäude getroffen hatten. Unter Androhung von Gewalt zwangen daraufhin Gestapo und Parteileute die Menschen, die Unterkünfte zu verlassen und sich zu Fuß an die Bahnhöfe Büdesheim oder Gerolstein zu begeben. Jetzt ging die Flucht mit Karren und Handwagen unter Artilleriebeschuss los. Glücklich war, wer einen Platz im Prümer Feuerwehrwagen erwischte. Diesen steuerten Josef Nahrings und ein Beifahrer - beide damals noch nicht einmal 16 Jahre alt. Den ganzen Tag fuhr der überfüllte Feuerwehrwagen zwischen Prüm und Büdesheim hin und her, ständig bedroht von Artillerieeinschlägen und Tieffliegerangriffen. Am Straßenrand hinter Dausfeld kauerte indes weinend und völlig erschöpft Pastor Theis. In einem Leinensack hatte er die wertvollsten Mess-Utensilien bei sich. Mit dem allerletzten Tropfen Diesel erreichte Josef Nahrings mit dem mit Flüchtlingen voll beladenen Feuerwehrwagen Altenkirchen. Wo immer die Prümer im September 1944 auch Zuflucht gefunden hatten: Die Wenigsten ahnten zu diesem Zeitpunkt, dass sie nach Kriegsende 1945 in eine buchstäblich tote Stadt heimkehren würden, in der wie durch ein Wunder nur noch die Türme der Salvator-Kirche standen. Die Zerstörung war so schlimm, dass Offiziere der amerikanischen Militärverwaltung ernsthaft vorschlugen, die Trümmerreste einzuebnen und die Stadt an anderer Stelle wieder aufzubauen.

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