"Gewalt kommt nicht von Nichts"

PRÜM. Gastrednerin beim 47. Prümer Grundschulforum war Irmtrud Finkelgruen. Die ehemalige Vorsitzende Richterin der Großen Strafkammer am Trierer Landgericht sprach am Montagabend zum Thema Gewalt.

"Referate sind nicht mein Ding", bekennt Irmtrud Finkelgruen gleich zu Beginn. Nachdem sie sich von Schulleiter Klaus Hack "habe breit schlagen lassen", zum Thema "Im Dunstkreis der Gewalt" zu sprechen, seien ihr Bedenken gekommen. "Ich hatte Bammel", bekennt sie freimütig vor dem kleinen Zuhörerkreis in der Bertrada-Aula und erklärt, warum: Nicht das freie Reden sei das Problem, sondern der fehlende Sachver-halt eines Gerichtsprozesses, und damit der rote Faden für ihren Vortrag. Und dann spricht sie - fast eineinhalb Stunden lang: über menschliche Tragödien, über Gewalt und den evolutionären Hintergrund menschlichen (Fehl-) Verhaltens. Erklären statt beschuldigen

Als ehemalige Richterin hat Irmtrud Finkelgruen viele Abgründe und Grenzbereiche menschlichen Verhaltens kennen gelernt. Überlegungen und Erfahrungen aus dieser Zeit bringt sie mit nach Prüm. Immer wieder sucht sie dabei nach Erklärungen für gewalttätige Handlungen - und sie tut das ohne Schuldzuweisungen. "Gewalt entsteht nicht aus dem Nichts", sagt die Ex-Richterin. Mit einem Griff in die Evoluti-onsgeschichte betrachtet sie die Funktion des menschlichen Gehirns, um deutlich zu machen, dass Bereitschaft und Fähigkeit zur Gewalt genetisch in jedem Menschen angelegt sind. Und bereits in der Bibel sei durch die zehn Gebote das teils primitive menschliche Verhalten mit Regeln belegt worden. Aber ein Patentrezept gegen die Ausübung einer Macht ("Gewalt ist nichts anderes") gebe es nicht. Sie erzählt aus der Zeit, als sie noch in Köln lebte, ihr Sohn als Erstklässler 1970 in einer der ersten Gesamtschulen Nordrhein-Westfalens eingeschult wurde. Eine Schule, die von Eltern und Lehrern gemeinsam gegen die Hürden der Bürokratie aus dem Boden gestampft wurde: "Zwölfzügig angelegt und in bestem "Beton-Brutalismus erbaut - ein gigantisches Projekt also". Es habe nicht lange gedauert, bis der Vandalismus im Gebäude begann. Irmtrud Finkelgruen: "Diese Schule hatte keine Nischen, nichts, wo Kinder sich wohl fühlen konnten." Also habe man im Kunstunterricht gemeinsam mit den Kindern eine Neugestaltung erarbeitet und umgesetzt. "Ab diesem Zeitpunkt war Ruhe", sagt die 65-Jährige. Der Grund: Nachdem sich die Kinder ihre Umgebung selbst erarbeitet hatten, wollten sie diese nicht wieder zerstören. Gewalt hat viele Gesichter, weiß die Richterin. Dabei seien Übergriffe in Familien viel häufiger als Verbrechen, die in der Öffentlichkeit mehr Beachtung finden. Oft projizierten Erzieher eigene Wünsche auf ihre Kinder, anstatt die erforderliche Distanz zu akzeptieren. "Ein Kind oder Jugendlicher muss ab einem gewissen Zeitpunkt für sich selbst verantwortlich sein", sagt Finkelgruen und belegt dies mit Beispielen aus der Richterzeit. "Bei vielen Gewaltverbrechen wurde dem Täter dieser wichtige Schritt, selbst Verantwortung als junger Mensch zu übernehmen, vorenthalten", erklärt die Juristin und resümiert, dass Gewalt nicht selten über das Verlangen entsteht, wahrgenommen zu werden.

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