"Unsere Tochter ist nur noch ein Nervenbündel"

BITBURG. In einer neunstündigen Verhandlung hat das Amtsgericht Bitburg unter dem Vorsitz von Richter Werner von Schichau versucht, sich der Wahrheit in einem Nötigungs-Fall zu nähern. Vor drei Jahren soll ein damals 48-jähriger Arzt einer 29-jährigen Patientin in den Schambereich und an die Brust gegriffen haben.

DIE ANKLAGE. Wenn es so abgelaufen ist, wie die Patientin ausgesagt hat, geht es dabei um eine vielleicht entscheidende Minute. Während einer Lasertherapie in seiner zu diesem Zeitpunkt sonst menschenleeren Praxis versucht Michael N. seiner Patientin Melanie R. (Namen von der Redaktion geändert) durch private Fragen und Komplimente näher zu kommen. Er bietet ihr das Du an, fährt mit seiner Hand in ihre wegen der Behandlung geöffneten Hose und berührt ihre Schamhaare. Sie springt auf, beschimpft ihn. Er umklammert sie und versucht sie zu küssen. Sie reißt sich los, er packt sie erneut und zwickt sie in eine Brust. Die verschlossene Außentür der Praxis stoppt Melanie R.'s Flucht. Michael N. schließt erst auf, als sie ihm mit der Polizei droht.DIE TATZEIT. Ein Großteil des Prozesses dreht sich um die zentrale Frage, wann die Straftat passiert ist (falls sie überhaupt passiert ist). Dragan N. will die Patientin in der fraglichen Woche nur zweimal wegen Rückenschmerzen untersucht und krank geschrieben, aber nie behandelt haben. Entsprechende Einträge in Karteikarten und Patientenlisten seien für den 21. und 24. Oktober 2002 vorhanden, nicht jedoch an den für die Tat in Frage kommenden Tagen 25. oder 26. Oktober (Freitag oder Samstag). "Das beweist, dass die Frau lügt", stellt N. ultimativ fest.DIE LÜCKEN. Bei der Rekonstruktion der Tage rund um die Tat muss die gefasst auftretende Melanie R. vor Gericht immer wieder passen. Sie bezeichnet sich gleich zu Beginn als "Meister des Verdrängens". Ein- oder zweimal sei sie Tage oder Wochen vorher in der Praxis gewesen. Tattag, Fahrtstrecke nach ihrer Flucht, ihr erster Anruf bei der Polizei, ein möglicher Arbeitsversuch nach der Tat - die Erinnerung scheint verschwommen. Um so präsenter ist ihr die Tat selbst: "Das beschäftigt mich stark. Ich habe Ängste entwickelt und beginne deshalb im Januar mit einer Therapie." Vor allem die Missachtung ihres Willens und die Angst, dass der Arzt ihr zu Hause auflauern könnte, hätten ihr zu schaffen gemacht.DAS UMFELD. Melanie R.s Eltern, ihr Lebensgefährte und ihr Hausarzt, denen sie damals von dem Erlebnis berichtet hatte, stützen ihre Aussagen. "Sie lässt seit dem Vorfall selten Nähe zu", sagt der Freund. "Von unserer selbstbewussten Tochter ist ein Häufchen Elend übrig geblieben", sagt die Mutter. Und der Vater ergänzt: "Sie ist nur noch ein Nervenbündel." Dem Hausarzt ist der "psychisch instabile Zustand" aufgefallen.Schlechte Erinnerung an Arztbesuch als Kind

DIE ARZTFRAU. Jelena N. ist eigentlich Kinderärztin, aber in der Praxis ihres Mannes Michael als einzige Angestellte für Verwaltung, Behandlung und sogar die Reinigung der Räume zuständig. Sie verweist auf die lückenlose Dokumentation. Nie sei ihr Mann allein in der Praxis. "Wenn Sie samstags zu Hause sind, sitzt Ihr Mann dann immer neben Ihnen, oder fährt er auch schon mal weg?", will die Vertreterin der Nebenklage wissen. Kleinlaut bejaht die 48-Jährige den zweiten Teil der Frage.DAS GUTACHTEN. Die Gutachterin im Auftrag der Staatsanwaltschaft diagnostiziert bei Melanie R. eine "glaubhafte, konstante und inhaltlich wertvolle Aussage". Gewisse Gedächtnislücken seien tolerierbar. Die heftige Reaktion der Patientin bei dem Vorfall könne mit einem Erlebnis als Kind zu tun haben: Vier Erwachsene mussten sie festhalten, als ein Arzt ihr eine Spitze setzen wollte. Seitdem hat sie eine Spritzenphobie. Nach Auswertung weiterer Dokumente wird die Verhandlung am Donnerstag, 8. Dezember, um 14 Uhr fortgesetzt.

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