Viele Tränen unterm Weihnachtsbaum

Es war die gut gemeinte Idee meiner Mutter, mich in die Eifel zu evakuieren, zu Freunden, bei denen wir schon viele Jahre unsere Sommerferien verbracht hatten. Dort, wo Fuchs und Hase sich die oft zitierte gute Nacht wünschen, dort wird der Krieg spurlos vorübergehen... Bisher fuhren wir mit der Bahn von Trier nach Birresborn, aber diesmal war alles anders. Unser Zug, in dessen Mitte ein Rungenwagen mit einer Vierlingsflak bestückt lief, endete in Erdorf. Ab dort war die Bahnstrecke nicht mehr passierbar, die Jagdbomber hatten sie mal wieder lahmgelegt. Als Schienenersatzverkehr standen offene Lastwagen bereit. Zwischen Densborn und Mürlenbach erneut ein Stop. Jabos kamen im Tiefflug das Kylltal runter. So machten wir zum ersten Mal mit der Kylltaler Ackerscholl Bekanntschaft. Die Piloten flogen tief - es wurde kein Schuss abgefeuert. Wir erreichten unser Ziel, einen allein stehenden Bauernhof auf der Höhe zwischen Kopp und Wallersheim, unbeschadet. Aber hier war alles anders als gewohnt. Unser Hof, normalerweise von einer vierköpfigen Familie bewohnt, war alles andere als friedlich. Ums Haus fuhren und standen Militärfahrzeuge, überall Soldaten und im Haus Evakuierte aus Brandscheid und Neuendorf. Die beiden Söhne waren an der Front. Zeitweise waren bis zu sechzig Mann in Haus und Scheune.Lieblingsplatz auf der Holztreppe

Bei aller Umstellung war es für mich als Zwölfjährigen eine aufregende und spannende Zeit. Hier war alles anders. Keine Schule, kein Fliegeralarm - denn hier gab es ja keine Sirenen, die einen nachts aus dem Schlaf rissen. Das Essen war besser, und es gab täglich viel zu bestaunen. Die kleinen Arbeiten, die man mir auftrug, machten mir Spaß: zu den Fütterzeiten in der Scheune Heu "roppen" oder die "Rommelnmühl" drehen. Ich lernte melken. Mein Lieblingsplatz im Haus war die Holztreppe, die von der Küche nach oben führte. Von der sechsten Stufe hatte ich einen guten Überblick, sah und hörte vieles. So zum Beispiel, als sich bei uns ein Schnellrichter einquartierte. Die gute Stube wurde sein Amtssitz und war für uns gesperrt. Ich saß auf meinem "Hochsitz" und sah Soldaten, die neben dem Herd auf der Holzkiste auf ihre Verurteilung warteten. Eine Unterhaltung mit ihnen war uns untersagt. Eine Suppe von der Hausfrau durfte angenommen werden. Auf der Treppe erlebte ich auch unsere Eroberung durch die kämpfende Truppe, aber das war drei Monate später. Die Einquartierung wechselte häufig. Eines Tages kam eine Einheit, die mit Fahrrädern ausgerüstet war. Alles junge Burschen. Am nächsten Morgen war Waffenreinigen befohlen. Wegen der Kälte hielten sich die Soldaten in den Ställen auf. Gerade als ich auf dem Häuschen im Hof saß, krachte ganz in der Nähe ein Schuss. Ich hielt mir die Ohren zu und wartete auf weitere Schüsse. Nach einiger Zeit bemerkte ich eine Unruhe, Schreie, rennende Soldaten. Was war los? Durch die Unachtsamkeit eines jungen Rekruten war beim Hantieren mit der Maschinenpistole ein Schuss losgegangen, der einen Kameraden in den Kopf traf. Im Schweinestall lag ein toter Soldat, 18 Jahre alt. Es sollte nicht der letzte tote Soldat gewesen sein, den ich bei unserem Haus sah. An Weihnachten war nicht so viel Militär im Haus, so dass wir die "Stuff" wenigstens für uns hatten. Ein Bäumchen wurde aufgestellt und auch die Krippe. Die "Gute Seele" des Hauses hatte sogar einige Plätzchen gebacken. Auf meiner Blockflöte spielte ich einige Weihnachtslieder. Gesungen hat keiner. Es gab viele Tränen. Sie waren mit ihren Gedanken bei ihren Söhnen im Feld, ihren verlassenen Häusern nahe der Grenze und die Hochschwangere bei ihrem vermissten Mann. Nur mich als Kind belastete die Abwesenheit der Familie und die ungewisse Zukunft nicht so sehr. Mein Weihnachtsgeschenk bestand aus handgestrickten Schafswolle-Strümpfen. Sie hielten gut warm und kratzten. Am ersten Weihnachtstag gingen wir, wie jeden Sonntag, nach Kopp in die Kirche. Eine Wegstrecke von einer halben Stunde. Das Wetter spielte nie eine Rolle. Ich habe jedoch oft um schlechtes Wetter gebetet, denn bei klarem Wetter mussten wir uns vor den Jabos fürchten, die manchmal auch auf einzelne Personen schossen. Bei Westwind hörten wir jetzt von fern die dumpfen Schläge der Explosionen. Abends standen wir öfter vor der Tür und bestaunten voller Angst das "Wetterleuchten" aus Richtung der belgischen Grenze. Das war unsere Weihnachtszeit 1944. Gut, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, was noch alles auf uns zukommen sollte. Hermann Braun, gebürtiger Mattheiser, lebt seit über 40 Jahren in Frankfurt. Er pflegt noch immer gute Verbindungen in seine Heimatstadt Trier.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort