Weihnachten in den Ardennen 1944: Als Feinde zu Freunden wurden

Philippsheim/Aachen · An eine besondere Begegnung zwischen deutschen und US-amerikanischen Soldaten erinnert sich der gebürtige Aachener Fritz Fincken. Am Heiligen Abend wurden Feinde zu Freunden. Matthias Thömmes aus Philippsheim hat die Geschichte aufgezeichnet.

Philippsheim/Aachen. Mit zwölf Jahren war Fritz Vincken mit seiner Familie bei einem Bombenangriff auf Aachen obdachlos geworden. Ihr Wohnhaus war nur noch ein Trümmerhaufen. Nach vorübergehender Evakuierung nach Neuwied holte der Vater, der als Bäckermeister im Grenzgebiet der Ardennen für die Baukolonnen das Brot backen musste, die Familie zu sich. Er hatte für sie eine leerstehende Baracke als Unterkunft besorgt. Hier wollten sie die nächsten drei bis vier Wochen verbringen in der Hoffnung, dass dann der Krieg zu Ende sei.
Kanonen und Kampfflugzeuge



Diese Hoffnung sollte sich jedoch nicht erfüllen. Als Hitler am 16. Dezember 1944 seine Ardennenoffensive begann, wohnte die Familie Vincken immer noch in der Baracke und hörte ringsum den Kampfeslärm. Inzwischen hatte Schneefall eingesetzt und die Baracke wurde total eingeschneit. Die Familie war allerdings mit Nahrungsmitteln gut versorgt, und ein gemauerter Ofen spendete wohlige Wärme.
So kam der Heilige Abend 1944. Draußen schien die Wintersonne von einem wolkenlosen Himmel. Den ganzen Tag über hörte man den Kanonendonner von der nahen Front und die alliierten Kampfflugzeuge, die mit ihrer Bombenlast am Himmel flogen. Erst mit der Dunkelheit am Abend wurde es still.
Fritz Vincken saß im Halbdunkel der Baracke und wartete ungeduldig auf die Hühnersuppe, die seine Mutter für ihn vorbereitete. Plötzlich klopfte es an der Tür. Erschrocken zuckten beide zusammen, als es nochmals klopfte. Sie fassten sich ein Herz und machten auf. Draußen standen zwei Männer mit Stahlhelmen, die sie in einer ihnen unbekannten Sprache anredeten und auf einen dritten zeigten, der im Schnee lag. Sie begriffen sofort, dass die Männer amerikanische Soldaten waren. Sie waren bewaffnet und hätten sich den Eintritt erzwingen können, doch sie warteten geduldig darauf, eintreten zu dürfen. Die Mutter ließ sie mit einer einladenden Geste herein.
Warmes Essen auf dem Herd


Die Soldaten nahmen ihren Kameraden, der wohl schwer verwundet war und legten ihn auf einen Strohsack. Da keiner von ihnen Deutsch verstand, versuchte man es mit Französisch. Die Mutter hatte im benachbarten Belgien in der Schule etwas Französisch gelernt, und so gelang auf diese Weise die Verständigung. Die drei Männer hatten ihre Einheit verloren und waren seit Tagen im Wald umhergeirrt.
Während die Männer ihre Mäntel ablegten und sich am Ofen aufwärmten, bereitete die Mutter ein warmes Essen vor. Währenddessen deckte der kleine Fritz den Tisch, als es zum zweiten Mal an der Tür klopfte. Der Junge öffnete und sah vor sich vier schwerbewaffnete Soldaten in deutscher Uniform stehen. Es waren Soldaten der Wehrmacht unter Führung eines Unteroffiziers. Der Junge war vor Schreck wie gelähmt. Trotz seiner Jugend wusste er, dass auf Begünstigung des Feindes die Todesstrafe stand. Sollte nun alles zu Ende sein?
In diesem Moment kam die Mutter heraus und rettete die brenzlige Situation mit den Worten: "Sie bringen aber eine eisige Kälte mit, meine Herren. Möchten Sie mit uns essen?" Damit hatte sie wohl den richtigen Ton getroffen, denn die Soldaten grüßten freundlich und fragten höflich, ob sie sich etwas aufwärmen dürften. "Natürlich", antwortete die Mutter. "Sie können auch eine warme Suppe mit uns essen! Es sind bereits drei Durchfrorene hier, aber machen Sie bitte bloß keinen Krawall!"
Auf die Frage des Unteroffiziers "Wen haben Sie denn da? antwortete die Mutter mutig: "Amis! Einer von ihnen ist verwundet, und die beiden anderen sind so hungrig und müde wie ihr. Es ist Heiligabend, und hier wird nicht geschossen! Legt euer Schießzeug da auf das Holz und kommt schnell rein, sonst essen die anderen alles auf!" Verdutzt und wortlos legten die Soldaten ihre Waffen ab und traten ein.
Gespanntes Schweigen



Währenddessen hatten die Amerikaner mitbekommen, dass "Krauts" vor der Tür standen und wollten sich zur Wehr setzen. Doch der Mutter gelang es, sie zu beschwichtigen, und als schließlich alle in der Stube zusammen waren, schienen sie etwas ratlos zu sein. Man schwieg sich an und es lag eine Gespanntheit in der Luft, die sich auf alle übertrug. Die Mutter aber suchte lächelnd für jeden einen Sitzplatz und machte sich wieder ans Kochen.
Allmählich löste sich die Spannung und es galt nun, alle sattzubekommen. Während die Mutter ihren Jungen in den Keller schickte, um noch Kartoffeln und Haferflocken zu holen, stöhnte der verwundete Amerikaner laut auf. Einer der Deutschen, der in Heidelberg Medizin studiert hatte, beugte sich über die Wunde, untersuchte sie und erklärte dann, dass sie wegen der Kälte nicht entzündet sei, der Soldat jedoch viel Blut verloren habe und Ruhe sowie kräftiges Essen brauche. Der Unteroffizier nahm aus seinem Brotbeutel eine Flasche Rotwein und ein anderer brachte ein Kommissbrot auf den Tisch. Die Mutter schnitt das Kommissbrot in Scheiben und gab dem verwundeten Amerikaner einen Becher Rotwein. Der Rest wurde unter den anderen verteilt.
Tränen in den Augen


Inzwischen hatten sich alle um den Tisch gesetzt, auf dem zwei brennende Kerzen und der Kessel mit der dampfenden Suppe standen. Dazu hatte jeder etwas Wein. Bevor man mit dem Essen anfing, fassten sich alle nach amerikanischer Sitte an den Händen, um Gott zu danken. Auch die Mutter sprach ergreifende Worte und schloss mit den Worten: "... und bitte mach endlich Schluss mit diesem Krieg!" Einige der Soldaten hatten Tränen in den Augen, und keiner schämte sich. Sie hatten sich ihre Menschlichkeit bewahrt und waren nun einfach wieder die jungen Söhne ihrer sich sorgenden Eltern fern der Heimat, die einen aus Deutschland, die anderen aus Amerika.
Nach dem Essen gab es noch amerikanischen Kaffee und Ananaspudding, den ein Amerikaner aus seiner Manteltasche holte. Dann wurden Zigaretten ausgetauscht, von den Deutschen Eckstein, von den Amerikanern Chesterfield. Danach betrachtete man bei klirrender Kälte den nächtlichen Sternenhimmel. Die Mutter forderte alle auf, den hellsten Stern, den Sirius, anzusehen. "Das ist unser Stern von Bethlehem", sagte sie, "der kündigt den Frieden an!"
Fritz Vincken muss heute noch oft an die jungen Soldaten denken, die als Feinde zusammentrafen und als Freunde auseinandergingen.

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