"Wo ess meng Motter, wo ess oos Hous?"

Sonntag, 24 Dezember, Heiligabend. Meine Schwester, die mit einem Kelberger verheiratet war, rief uns am Vormittag im gegenüberliegenden Gasthaus Hohn an und fragte, ob sie mit ihrer fünfjährigen Tochter Waltraud das Weihnachtsfest bei uns verbringen könne.

Ihr Mann war als Soldat in Russland. Wir hatten zwar das Haus voller Soldaten (Einquartierung), aber für sie und ihr Kind war immer noch Platz da. So erlebten wir Heiligabend zusammen im Elternhaus. Nicht dabei war mein Bruder, seit 1943 in Stalingrad vermisst. Am ersten Weihnachtsfeiertag gingen meine Eltern in die Frühmesse nach Üxheim. Während dieser Zeit kamen Flieger und warfen Bomben auf die Insel, einen Ortsteil von Ahütte. Am frühen Nachmittag ging eine "V-I" auf dem östlich gelegenen Berg "Auf den Stöcken" nieder. Mit einer Gruppe junger Frauen und einigen Soldaten spazierte ich gegen 15 Uhr in Richtung der Einschlagstelle. Wir wollten uns das Geschoss ansehen. Gegen 15.30 Uhr nahte von Westen her eine Staffel Flugzeuge. Wir warfen uns auf den Boden. Da nahte eine zweite Staffel, die etliche Bomben über Ahütte abwarf. Voller Angst und Schrecken liefen wir bergab zurück ins Dorf. Als wir an der Kapelle ankamen, führte kein Weg mehr weiter. Ein riesiges Trümmerfeld lag vor uns. Sieben Wohnhäuser mit landwirtschaftlichen Gebäuden waren vom Erdboden verschwunden. Jeder aus der Gruppe suchte sein Haus und rief nach seinen Angehörigen. Ich schrie: "Wo ess meng Motter, wo ess meng Schwester met dem End, wo ess oos Hous?" Herbeigeeilte Dorfbewohner liefen mit über die Trümmer und suchten nach den Vermissten. Außer meinen Angehörigen wurden noch weitere sechs Personen vermisst. Nach Aussagen einiger Anwohner stellte sich heraus, dass meine Angehörigen vor beziehungsweise während des Angriffs das Gasthaus Hohn aufgesucht hatten, vermutlich, um im dortigen Keller Schutz zu finden. Das Gasthaus gehörte ebenfalls zu den zerstörten Gebäuden. Ich stand auf den Trümmern unseres Hauses und weinte. Ein Soldat gab mir ein Schmalzbrot, von dem ich nur einen Bissen hinunter bekam. Ich ging meinem Vater entgegen, der als Schäfer mit seiner Herde in der Flur unterwegs war. "Auf Eich" begegneten wir uns. Ich rief ihm zu: "Oh Vatter! Motter, oos Ann onn et Kend sen duet." Den Rest der Weihnachtstage verbrachte ich trauernd und weinend um den Verlust meiner Angehörigen. Unterkunft fanden wir fürs erste bei Bongerts Pitter/Welling, später bei Jakob Hohn. Die Verschütteten wurden nach ein paar Tagen geborgen, in der Kapelle aufgebahrt, von Feyen Hanni/Gilles eingesargt (es mussten noch zusätzlich Särge angefertigt werden) und von Mellechmechel/Nelles bei Dunkelheit ab der Rohrsbach zum Friedhof von Üxheim gebracht, wo sie vom Pfarrer Schreiner beerdigt wurden. Auch heute, nach 60 Jahren, ist die Erinnerung an Weihnachten 1944 noch lebendig und erfüllt mich immer noch mit großer Trauer. TV-Leserin Gertrud Sesterheim ist eine geborene Molitor. Sie ist 89 Jahre alt und verwitwet. Früher war sie Hausfrau und Bäuerin.

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