Alles verloren

Bitburg/Magdeburg · Petra Schröder hat viel verloren, viel bereut und viel verdrängt in ihrem Leben. Sie ist adoptiert worden, sucht ihren Halbbruder und ihre beiden Söhne, zu denen sie den Kontakt verloren hat. Doch ihre Nervenerkrankung Multiple Sklerose macht die Suche fast unmöglich.

Bitburg/Magdeburg. Die Zigarette ist nur ein paar Züge alt, als Petra Schröder sie mit beiden Händen zitternd in einen Aschenbecher drückt.
Sie will nicht mehr weiter rauchen, sie hat etwas zu erzählen. "Ja, ich suche," sagt sie mit brüchiger Stimme und seufzt. Mehr will sie auf dem Balkon des Bitburger Seniorenpflegeheims Birkenhof nicht sagen.
Mit ihren schmalen Fingern betätigt sie ein paar Hebel an ihrem Rollstuhl und rollt den Gang entlang in ihr Zimmer, in dem sie seit Mai 2015 wohnt. Die 57-Jährige hat Multiple Sklerose (MS), eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Alleine kann sie ihren Alltag nicht mehr meistern, sie ist auf Hilfe angewiesen.
Auf Hilfe hofft sie auch bei ihrer Suche nach ihrem Halbbruder Siegfried Strey und ihren beiden Söhnen Marcel (geboren am 19. Dezember 1978) und Andy Plate (geboren am 1. Oktober 1982). Ihr fällt es schwer, über diese Dinge zu reden. An manches aus ihrer Kindheit erinnert sie sich gut, an manches nur bruchstückhaft. Sie weiß, dass sie am 29. August 1958 in der Landesfrauenklinik in Magdeburg als Petra Strey geboren wurde. Als Baby kommt sie in ein Heim im Magdeburger Stadtteil Neustadt. Mit fünf Jahren wird sie adoptiert und heißt Petra Böhm.
Als Kind besucht sie ein paar mal den einzigen Fischladen in Magdeburg. "Rostocker Fischladen" heißt der damals. Im "Rostocker Fischladen" arbeitet damals eine kräftige Frau mit rotblonden Haaren. "Meine Mutti, also die Frau, die mich geboren hat", nennt Petra Schröder diese Frau. Mit richtigem Namen heißt die Frau Christa Strey. Von ihren Stiefeltern weiß sie, dass diese Fischverkäuferin ihre leibliche Mutter ist. Immer wieder geht sie in den Fischladen, aber sie traut sich nicht, diese Frau, die sie geboren hat, anzusprechen.
Petra Schröder, wie sie heute heißt, ist 16 Jahre alt, als sie durch Zufall über eine Freundin ihren ein Jahr älteren Halbbruder Siegfried Strey kennenlernt. Die beiden haben dieselbe Mutter. Ihr Halbbruder lebt zu diesem Zeitpunkt bei seinem Vater. Sie kann sich kaum noch an ihn erinnern. Rote Haare hatte er, das weiß sie noch. Und dass er zu diesem Zeitpunkt in einem Schlachtbetrieb arbeitet. Sie sehen sich fünf Mal, dann reißt der Kontakt wieder ab.Adoptiveltern verstorben


40 Jahre hat Petra Schröder nichts mehr von ihm gehört. Immer wieder hat sie seitdem daran gedacht, ihre leibliche Familie ausfindig zu machen. Aber: "Damals haben meine Adoptiveltern noch gelebt, und ich wollte sie nicht verärgern, wenn ich meine leiblichen Eltern suche."
Vor etwa zehn Jahren sind ihre Adoptiveltern verstorben. Seitdem hat Petra Schröder nur die neue Frau ihres leiblichen Vaters ausfindig gemacht und erfahren, dass dieser schon lange tot ist. Schröder hat viele Fragen, die ihr niemand beantworten kann. "Ich weiß zum Beispiel nicht, ob schon einmal jemand aus meiner Familie MS hatte. Wenn die Ärzte mich fragen, ob Krankheiten in der Familie bekannt sind, sage ich immer: Das weiß ich nicht."
In den vielen Jahren, in denen sie ohne ihre leibliche Familie gelebt hat, hat sie sich ein eigenes Leben aufgebaut und viel verloren. Sie ist zum dritten Mal verheiratet. Für ihren jetzigen Ehemann ist sie nach Bitburg gezogen. Aus ihrer ersten Ehe hat sie zwei Söhne, die sie seit etwa sieben Jahren nicht mehr gesehen hat. Und sie hat eine Enkeltochter, Sophie, 2002 geboren. Auf dem Foto an der Wand in ihrem Zimmer im Seniorenpflegeheim ist Sophie noch fast ein Baby. "Ach, die Kleene", sagt Petra Schröder und lächelt.
Auch dieser Kontakt bricht ab, kurz nachdem sie sich von ihrem damaligen Mann trennt. Das war vor ein paar Jahren, als ihre MS-Erkrankung sich immer weiter verschlimmert.
Sie muss in mehrere Krankenhäuser, in Pflegeheime, kann nicht mehr für sich selbst sorgen. Sie verliert alles, auch sämtliche Adressen, Kontaktdaten, Telefonnummern.Erinnerungen strengen sie an

 Petra Schröder sucht ihre Familie. TV-Fotos (3): Sarah München/privat

Petra Schröder sucht ihre Familie. TV-Fotos (3): Sarah München/privat

Foto: (g_welt )
 Petra Schröder sucht ihre Familie. TV-Fotos (3): Sarah München/privat

Petra Schröder sucht ihre Familie. TV-Fotos (3): Sarah München/privat

Foto: (g_welt )
 Das sind die Bilder, die Petra Schröder von ihren beiden Söhnen Marcel (links)und Andy Plate geblieben sind.

Das sind die Bilder, die Petra Schröder von ihren beiden Söhnen Marcel (links)und Andy Plate geblieben sind.

Foto: (g_welt )


Mittlerweile geht es ihr so schlecht, dass sie an ihren Rollstuhl gefesselt ist und nicht einmal ein Telefon oder einen Computer alleine bedienen kann. Viel hat sie über die Jahre verdrängt, viel verloren, viel bereut. Das Sprechen und die Erinnerungen strengen sie an.
Sie kann nicht mehr weitererzählen. "Ich muss jetzt erst mal eine rauchen", sagt sie, rollt wieder auf den Balkon und steckt sich mit zitternden Händen ihre nächste Zigarette an.
Ein Video von Petra Schröder gibt es im Internet unter
www.volksfreund.de/video
Hinweise an
s.muenchen@volksfreund.de

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