Den Vater verloren

Im September 1944, beim Einzug der Amerikaner in die Eifel, so auch in meinen Heimatort Schlausenbach (15 Kilometer von Prüm entfernt), wurde unsere Familie in das benachbarte Belgien nach St. Vith evakuiert.

Mein ältester Bruder, damals 16 Jahre alt, war zu dieser Zeit auf einem Bauernhof als Hilfskraft untergebracht worden. Somit war ich alleine mit meiner Mutter (45 Jahre) und meinen sechs jüngeren Geschwistern unterwegs (Michael elf, Klara 13, Elisabeth zehn, Nikolaus sieben, Barbara fünf und Anna ein Jahr alt, sie konnte zu dieser Zeit noch nicht laufen). Mein Vater, damals 43 Jahre alt, war aufgrund eines Schockerlebnisses nach einem Bombenangriff ins Krankenhaus St. Vith eingewiesen worden. Eine große Verantwortung lastete auf mir. Als nunmehr ältester Sohn, alleine mit Mutter und den Geschwistern in dieser schweren Zeit, weit weg von zu Hause, nur mit dem Nötigsten an Hab und Gut unterwegs. In St. Vith waren wir mit mehreren Familien im alten Bahnhofsgebäude eng zusammengepfercht untergebracht. Am Heiligabend fielen die ersten Bomben auf St. Vith. An "Stille Nacht, heilige Nacht" konnte und wollte zu dem Zeitpunkt niemand denken. Alle warteten nur auf das Ende des Angriffs und auf einkehrende Ruhe. Am nächsten Morgen, dem ersten Weihnachtstag, war schönes und helles Wetter, so dass alle davon sprachen, dass bei einem solch wolkenfreien Himmel wohl die nächste Angriffswelle drohe. Diese Vermutung brachte meine Mutter zu der Entscheidung, dass wir nach Hause gehen sollten. Unsicherer, so meinte sie, könne es dort für uns auch nicht sein. Bevor wir den 20 Kilometer langen Fußmarsch nach Hause antraten, wollten wir nochmals unseren Vater im Krankenhaus aufsuchen, um zu schauen, ob er mit uns kommen könnte. Eine Vielzahl von Militärfahrzeugen der Deutschen zog an uns vorbei. Meine Mutter stoppte einen dieser Wagen und bat darum, die vier älteren Kinder doch in Richtung Auw mitzunehmen. Innerhalb weniger Minuten verfrachteten wir die Kinder auf einen Militärlaster und überließen sie ihrem Schicksal bei wildfremden Männern. Meine Mutter, meine zwei jüngsten Geschwister und ich besuchten meinen Vater im Krankenhaus. Dort erfuhren wir, dass sein Zustand nicht stabil war und er an diesem Tage nicht mit uns nach Hause kommen konnte. Der Fußmarsch hätte sein Leben bedroht. Kurzerhand wurde entschieden, dass er am nächsten Tag mit einem Militärtransport zu uns zurückkehren würde. Wir verabschiedeten uns, "bis morgen". So zogen wir nun Richtung Heimat. Einiges an Koffern und Kisten musste aus der Unterkunft etwa einen Kilometer weit getragen werden. Wir brachten die Gepäckstücke zu einem Sammelplatz, dort sollte alles bis zur Beruhigung der Situation gelagert werden, so dass wir es später abholen könnten. Ganze vier Stunden dauerte die Prozedur, weil wir unter ständigem Bombenfeuer immer wieder das Gepäck abstellen und uns zum Schutz in den Graben werfen mussten. Wir befanden uns mit dem letzten Gepäckstück und den beiden Kleinen auf der Treppenstufe, da sagte meine Mutter: "Lass uns in den Keller gehen. Es droht Fliegerangriff." Ich, müde von der ganzen Aktion und gewillt, nach Hause zu kommen, wollte nicht auf sie hören und entgegnete: "Wir haben jetzt alles - wir sollten jetzt gehen!" Kaum hatte ich diesen Satz mit Nachdruck gesagt, da hörte ich ein tobendes Geräusch und wurde auch sogleich mit Wucht in den Keller geschleudert. Plötzlich kehrte eine beängstigende Ruhe ein. Als wir wieder nach draußen kamen, bot sich uns eine ganz andere Umwelt. Die Kellertreppe war abrasiert, ein riesiges Trümmerfeld lag vor unseren Augen. Sofort rannte ich zu unserem Gepäck. Das lag zwar von Staub und Dreck übersät, aber ansonsten noch unversehrt an gleichem Ort. Eine unzählige Zahl an Militärwagen zog an uns vorbei. Bis Mitternacht haben wir noch dort ausgeharrt, bis schließlich ein Wagen anhielt, der bereit war, uns mitzunehmen. Es war ein Offizierswagen. Die Soldaten setzten uns in Schönfeld, etwa zehn Kilometer von St. Vith entfernt, ab. Dort wurde uns Zuflucht in einem Haus gegeben. Die Besitzer hatten sich im Keller als Schutz vor Angriffen einquartiert. Wir mussten in der oberen Etage auf nacktem Fußboden schlafen. Aufgrund der Anstrengung des Tages schliefen wir alle schnell, tief und fest ein. Die Besitzer haben uns nicht einmal geweckt, als Angriffe stattfanden. Wie durch ein Wunder sind wir alle vier unversehrt geblieben, denn so, wie die ganzen umliegenden Häuser am nächsten Morgen aussahen, hätte bei einem Treffer niemand von uns überlebt. Der zweite Weihnachtstag: ein zweistündiger Fußmarsch lag vor uns. Bei einer Zwischenstation bei Familie Lehnen in Andler (Bekannte meiner Eltern) wurden wir durch eine leckere Mahlzeit gestärkt. Um 13 Uhr traten wir die letzen zwei Kilometer nach Hause an. Für diese Strecke haben wir drei Stunden an Zeit investieren müssen. Aufgrund ständiger und heftiger Angriffe mussten wir unzählige Male folgenden Ablauf immer und immer wieder vollziehen: Bei Angriff legte meine Mutter eine Decke in den Graben, die beiden Kinder darauf, sie sich schützend darüber und ich, als Ersatz für den familienbeschützenden Vater, legte mich über Mutter und Kinder. Am Abend des zweiten Weihnachtstags kehrten wir um 16 Uhr in Auw bei Verwandten zur Übernachtung ein. Die anderen Kinder waren bereits dort angekommen. Wir erfuhren, dass über den ganzen Tag hinweg St. Vith unter schwerem Bombenbeschuss gelegen hatte und alles zerstört sei. In unser Haus konnten wir auch nicht, denn dort, so wurde uns berichtet, sei vieles zerstört und Soldaten einquartiert worden. Aufgrund der Nachrichten, die sich schnell verbreiteten, kehrte auch überraschenderweise mein älterer Bruder zu meinen Verwandten nach Auw zurück, um sich zu erkundigen, ob sie etwas von seiner Familie wüssten. Er staunte nicht schlecht und ihm fiel nicht nur ein Stein vom Herzen, als er uns dort unversehrt antraf. Er war zunächst nach St. Vith gereist und hatte dort zwei Kleidungsstücke in den Trümmern gefunden, von denen er genau wusste, dass diese zu uns gehörten. Somit hatte er mit dem Schlimmsten gerechnet. Zwei Tage nach Weihnachten zogen mein Onkel und mein ältester Bruder nach St. Vith, um sich nach dem Befinden meines Vaters zu erkundigen. Ihnen wurde berichtet, dass eine der ersten Bomben, die auf die belgische Stadt fielen, das Krankenzimmer, in dem mein Vater untergebracht war, getroffen hatte, und es natürlich dabei kein Überleben gab. Vor Ort war nichts mehr zu finden, keine Kleidungsstücke, keine Schuhe, keinerlei Spuren von ihm. Alle Leichenteile, die man dort noch auffinden konnte, wurden in einem Massengrab in St. Vith zusammengetragen, so dass auch mein Vater dort beerdigt liegt. So verlief mein letztes gemeinsames Weihnachtserlebnis mit meinem Vater und der Familie. Von einem "Fest" kann ich hier nicht sprechen. Es war ein furchtbares und noch bis heute tragisches Erlebnis. Eine harte Zeit und viele Weihnachten ohne meinen Vater lagen vor meiner Mutter, meinen Geschwistern und mir. Johann Margraff aus Auw war mehr als 40 Jahre als Bauarbeiter tätig. Im Nebenberuf bewirtschaftete der heute 74-Jährige zusammen mit seiner Frau Maria einen landwirtschaftlichen Betrieb. Die Margraffs haben zwei Kinder und zwei Enkelkinder.

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