Die Puppe Ursula

Seit August 1944 lag Erdorf unter dem Beschuss der Alliierten, und unser kleines landwirtschaftliches Anwesen lag zwischen der Kyllbrücke und dem Bahnübergang. Der Bahnhof Erdorf und die Kyllbrücke waren wegen der strategisch wichtigen Nachschubwege ein erklärtes Abschussziel. Am Sonntag, 17. Dezember 1944, nach dem Hochamt geriet Erdorf unter massiven Beschuss. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Häuser stürzten ein, und der Bahnhof und die Brücke lagen unter Feuersalven. Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter sich den ganzen Winter über nachts stets in den Kleidern aufs Bett gelegt hat, mit dem Wintermantel zugedeckt, um im Alarmfall nur schnell genug die vier Kinder wecken zu können. Mein Vater war Feldhüter. Nachdem am 17. Dezember 1944 so viele Menschen in ihren Kellern und Bunker verschüttet worden waren, rief er bei Fliegeralarm nur noch: "In den Wald, in den Wald!" Nun kam der Heilige Abend. Damals kam das Christkind immer erst in der Weihnachtsnacht, also wenn wir Kinder bereits schliefen. So saßen wir nun hinter verdunkelten Fenstern und bei armseligen Plätzchen zusammen und grübelten, was das Christkind wohl bringen mochte. Ich, Magda, war acht Jahre alt und hatte mir schon so lange eine Puppe gewünscht. Bei jeder Gelegenheit hatte ich meine Mutter gegängelt, doch das Wissen um den Krieg und die Entbehrungen ließen die Erfüllung des Wunsches schier unmöglich erscheinen. Wir lagen schon in unseren Betten, als plötzlich, abends gegen 10 Uhr, die Sirenen heulten - Fliegeralarm! Schon hörten wir die Jabos aus Richtung Luxemburg näher kommen. Vater und Mutter holten uns aus den Betten: "Raus, raus, über die Brücke in den Wald!" Es war eine sternenklare Winternacht mit klirrender Kälte, und wir suchten in einem Hohlweg im nahen Wald Schutz. Die ganze tödliche Last war für Bitburg bestimmt. Der Himmel über Bitburg färbte sich glutrot - Bitburg brannte! In dieser Nacht wurde, wie wir später erfahren hatten, Bitburg in Schutt und Asche gelegt. Nach einigen Stunden ließen die Angriffe nach. Den glühend roten Himmel vor Augen und steif vor Entsetzen und Kälte marschierten wir in unser Haus zurück. Am Weihnachtsmorgen gegen 10 Uhr weckte uns die Mutter: "Das Christkindchen war da!" Da war alle Müdigkeit verflogen, raus aus dem Bett und runter in die Stube. Da lag sie: Ursula - meine lang ersehnte Puppe! Ich war überglücklich, und die Erlebnisse der vergangenen Nacht fast vergessen. Eine Puppe! Natürlich keine so wie heute mit richtigen Haaren, klimpernden Wimpern oder sogar eine sprechende Puppe - nein, eine ganz einfache, herrliche Zelluloid-Puppe mit einem wunderschönen Gesicht. Sie konnte Arme und Beine bewegen, wurde "Ursula" getauft und war fortan mein Ein und Alles.Ein Hamsterkauf mit Folgen

Mutter hatte gerade die Kartoffeln aufgesetzt, als die Sirenen erneut heulten - Alarm! Alles stehen und liegen lassen, raus aus dem Haus, über die Brücke. Plötzlich schrie ich: "Meng Popp, meng Popp!!!" "Dou kaans well net meh zereck!" rief meine Mutter, doch ich hatte mich schon losgerissen und rannte ins Haus zurück, Ursula holen. Direkt hinter der Kyllbrücke hatten deutsche Soldaten schon im Herbst in den Sandstein unter dem Waldhang einen etwa drei Meter breiten und 20 Meter tiefen Bunker gehauen. Da der Bunker direkt neben der Brücke lag und die Ereignisse vom 17. Dezember 44 gezeigt hatten, dass ein Bunker nicht unbedingt Leben rettet, liefen wir lieber aufs freie Feld oder in den Wald. Doch heute war dazu keine Zeit mehr. Meine Mutter und ein Soldat warteten vor dem Bunker, zogen mich hinein und schlossen schnell die Tür. Die dunkle Höhle war voll von Menschen, überwiegend Soldaten und Leuten aus dem unteren Dorf. Stille - alle hörten auf die Flieger - die Menschen waren wie gelähmt. Ich hielt meine Ursula fest an mich gedrückt. Und in dieser Stille begann meine Schwester Gertrud mit ihren fünf Jahren mit fester Stimme das "Vater unser" zu sprechen. Einige waren betroffen und hatten einen Kloß im Hals, andere stimmten mit ein, und am Ende erhob sich der ganze unterirdische Saal, sogar die Soldaten, wie eine Stimme zum Gebet, das an den Felswänden widerhallte, als wollte man die Erde erschüttern, die Himmel zwingen. An diesem ersten Weihnachtstag 1944 kam niemand in Erdorf zu Schaden. Wie meine Mutter (das Christkind) aber die "Ursula" organisiert hatte, erfuhr ich erst kürzlich von meinem Bruder Theo. Er war damals 13 und bekam schon mehr in Sachen "hamstern" mit. Wir hatten ja einen landwirtschaftlichen Betrieb, und unser damaliger Lehrer Maas tauschte mancherlei gegen Butter und Speck. Meine Mutter fragte den Lehrer, ob er nicht eine Puppe organisieren könne. Und so war das nächste Tauschgeschäft Lebensmittel gegen Puppe - zu meinem großen Glück. Ursula ging mit aufs Feld, ins Bett, war bei jedem Fliegeralarm dabei, kurzum - sie begleitete mich ein Stück weit in dieser Kriegskinderzeit. Magda Braun, geborene Bauer, lebt heute in Fließem. Die gelernte Kaufmannsgehilfin ist am 23. Dezember 1936 geboren.

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