Kultur Eine Tapete erzählt

Niedersgegen · Die Bremer Wissenschaftlerin Katharina Eck ist bis in die Eifel gefahren, um sich eine Wandbekleidung aus dem 19. Jahrhundert anzusehen. Dem besonderen Stück im Hofgut Petry hat sie ein ganzes Kapitel ihrer Doktorarbeit gewidmet.

 Eine Geschichte an vier Wänden: Paul und Virginie (Mitte) wachsen gemeinsam auf der Insel Mauritius auf. Später verlieben sie sich ineinander.

Eine Geschichte an vier Wänden: Paul und Virginie (Mitte) wachsen gemeinsam auf der Insel Mauritius auf. Später verlieben sie sich ineinander.

Foto: TV/Nathalie Hartl

Tapeten gibt es in den meisten Häusern: gemustert, geblümt oder gestrichen. Die Wandbekleidung spielt in den meisten Räumen jedoch nur eine Nebenrolle. Vielen mag es unvorstellbar erscheinen, dass eine Person mehrere Hundert Kilometer reist, um eine Tapete zu studieren.

Im Fall des Hofguts Petry, das im Dorfzentrum von Niedersgegen liegt, sieht der Fall anders aus. Hier ist die Tapete der Star, der die Blicke auf sich zieht und sogar zu den Besuchern spricht, um ihnen eine Geschichte zu erzählen. Lediglich ein Tisch und Stühle sind in der Mitte des Raumes platziert. Ansonsten beherrschen die Wände das Zimmer. Tropische Pflanzen ranken darauf in Sepia-Tönen. Eine entsättigte Südseelandschaft lädt zum Verweilen ein.

Wie Mauritius in die Eifel einzog Im Handdruck gefertigte Bildtapeten wie die auf dem Hofgut Petry konnten sich nur reiche Bürger leisten. Und das war der Erbauer des Herrenhauses in der Gemeinde Körperich. Der Unternehmer und Jurist Jean-Joseph (auch Johann-Joseph) Richard ließ das Anwesen, das im Ortskern neben der Kapelle zu finden ist, im Jahr 1823 errichten. In die gute Stube holte sich der Gutsbesitzer die Bildtapete „Paul und Virginie“ (siehe Info), die eine Geschichte des französischen Autors Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre zeigt. Ein damals topmodernes Dekorationselement, das 1824 von der Pariser Manufaktur Joseph Dufour et Cie herausgebracht wurde. Doch die Tapete blieb nicht im Besitz der Richards. Die Familie geriet in finanzielle Schwierigkeiten und musste sich von dem Herrenhaus trennen. 1913 kaufte es die Familie Petry, die noch heute hier lebt.

Von der guten Stube entwickelte sich das Tapetenzimmer nach dem Zweiten Weltkrieg zur Unterkunft für Landarbeiter. „Fünf bis sechs Personen, die bei der Viehwirtschaft halfen, haben hier gehaust“, sagt Gertrud Petry. Erst nach ihrem Auszug wurde der rissig gewordene Wandschmuck restauriert. Eine Expertin verbrachte mehrere Wochen auf dem Gut, erneuerte das gute Stück und wurde von der Familie verköstigt.

Heute ist das Kunstwerk in einem guten Zustand. „Einmalig“ nennt Kunstwissenschaftlerin Katharina Eck das Exemplar, das nach ihrem Kenntnisstand nirgends anders so erhalten ist und sie für ein Kapitel ihrer Doktorarbeit von Bremen bis nach Niedersgegen geführt hat.

Ein ungewöhnliches Forschungsthema Als Katharina Eck einige Jahre zuvor mit ihrem Masterstudium begann, hätte sie vermutlich nicht geglaubt, dass es sie einmal in die Eifel ziehen würde, um dort eine Bildtapete zu erforschen. Doch in einer Seminarstunde nahm ihr Interesse für die großflächigen Kunstwerke ihren Anfang. Der Sitzungssaal des Eichstätter Landratsamts, in dem sich die Studenten versammelt hatten, war mit Szenen von „Amor und Psyche“ verkleidet. „Ich dachte erst, das seien Wandbilder“, sagt Eck. Aber bei dem Schmuck handelte es sich nicht um Ölgemälde, sondern eine französische Bildtapete, die ebenfalls aus dem Hause Joseph Dufour et Cie stammt. Eck stellte Nachforschungen an, fand aber zunächst nur wenig heraus. „Das Ganze war nicht wirklich erforscht.“

Für einen Auslandsaufenthalt ging die damalige Studentin nach Paris, wo sie Kontakt zu Experten knüpfte, die ihr bei der Spurensuche weiterhalfen. In der Bibliothèque Forney, die mitten in der französischen Hauptstadt liegt, bekam Eck ein weiteres Exemplar der Amor-und-Psyche-Tapete zu Gesicht. Als es vor ihren Augen entrollt wurde, war ihr klar: „Darüber schreibe ich meine Masterarbeit.“

Danach erhielt sie ein Stipendium und blieb beim Thema, das sie schließlich zum Hofgut Petry führte.

Reise nach Niedersgegen Obwohl ihre Forschungsreise zu „Paul und Virginie“ schon viele Monate zurückliegt, erinnert sich Eck noch heute daran, wie sie in Bitburg-Erdorf ankam und von Josef Junk, Bürgermeister der Verbandgemeinde Bitburger Land und ein Freund ihres Vaters, begrüßt wurde. Gemeinsam ging es „quer übers Land“ auf verschlungenen Landstraßen in die Gemeinde Körperich. In Niedersgegen angekommen, öffnete Gertrud Petry dem Besuch aus dem Norden die Tür. „Wir haben uns unterhalten, und ich habe einige Fotos gemacht“, sagt Eck.  Es ist nicht das einzige Haus, das sie für ihre Doktorarbeit besucht hat. Aber das mit dem längsten Anfahrtsweg.

584 Seiten später Ein komplettes Buch hat Eck über die französischen Bildtapeten aus der Manufaktur von Joseph Dufour geschrieben und dadurch den Doktortitel erlangt.

Das Kapitel über den Papierschatz von Niedersgegen umfasst allein 50 Seiten. Eck erforschte unter anderem, wie Frauen und Männer auf den Kunstwerken aus dem 19. Jahrhundert dargestellt worden sind.

Obwohl sich die Figuren unter Palmen in den Tropen befinden, haben sie die Werte und Normen aus Frankreich mitgebracht. „Die Frauen sind passiv und entsprechen dem europäischen Schönheitsideal.“ Wilde Inselbräute sucht man auf der Tapete im Hofgut Petry vergebens.

Auch das tragische Ende der Liebesgeschichte (siehe Info) wird dem Gast erspart. Zwar wird angedeutet, dass Unheil geschehen ist, der Tod Virginies jedoch nicht gezeigt.

„Die Tapete ist nicht nur Dekoration, sondern hat auch etwas Politisches“, sagt Eck. Schließlich sind darauf Szenen aus der Kolonialzeit zu sehen. Ein Sklave trägt die Franzosenkinder auf einer Sänfte, und ein paar andere arbeiten auf den Feldern. Es erscheint klar, wer den Ton auf der Insel angibt.

Exotische Landschaften faszinierten viele Menschen des Großbürgertums. Doch ihre Vorstellung vom Paradies unter Palmen war stark von der eigenen Kultur geprägt. Das bürgerliche Liebesideal galt auch auf Mauritius.

Über 500 Seiten, die mit Informationen, Daten und Fachwörtern gespickt sind, hat Eck über ihr Thema geschrieben. Die Recherche in der Eifel ist ihr im Gedächtnis geblieben. „Das war eine spannende Reise. Vor allem die Kombination aus dem Tapetenzimmer und dem landwirtschaftlichen Betrieb fand ich interessant.“

 Keine olle Raufasertapete: Die Geschichte von Paul und Virginie wird über alle vier Wände hinweg erzählt.

Keine olle Raufasertapete: Die Geschichte von Paul und Virginie wird über alle vier Wände hinweg erzählt.

Foto: TV/Nathalie Hartl
 Das Schiff, auf dem Virginie sich befindet, sinkt. Die Inselbewohner beobachten das Unglück von der Küste aus.

Das Schiff, auf dem Virginie sich befindet, sinkt. Die Inselbewohner beobachten das Unglück von der Küste aus.

Foto: TV/Nathalie Hartl
 Eine Wissenschaftlerin aus Bremen hat einen Teil ihrer Doktorarbeit über das Tapetenzimmer im Hofgut Petry in Niedersgegen geschrieben.

Eine Wissenschaftlerin aus Bremen hat einen Teil ihrer Doktorarbeit über das Tapetenzimmer im Hofgut Petry in Niedersgegen geschrieben.

Foto: TV/Nathalie Hartl
 Eine Wissenschaftlerin aus Bremen hat einen Teil ihrer Doktorarbeit über das Tapetenzimmer im Hofgut Petry in Niedersgegen geschrieben. Es befindet sich an der rechten Vorderseite des Hauses.

Eine Wissenschaftlerin aus Bremen hat einen Teil ihrer Doktorarbeit über das Tapetenzimmer im Hofgut Petry in Niedersgegen geschrieben. Es befindet sich an der rechten Vorderseite des Hauses.

Foto: TV/Nathalie Hartl

Das Buch „Tapezierte Liebes-Reisen – Subjekt, Gender und Familie in Beziehungsräumen des frühindustriell-bürgerlichen Wohnens“ von Dr. Katharina Eck ist im Juli im transcript-Verlag erschienen und im Handel erhältlich.
Im Fokus des wissenschaftlichen Werks steht nicht nur die Tapete „Paul und Virginie“, sondern auch die Werke „Amor und Psyche“ sowie „Telemach auf der Insel der Calypso“.

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