Menschen Die Athletin am Lehrerpult

Speicher/Zemmer · Der Sport war ihr Leben. Silvia Schwandke übernimmt das  Gymnasium Speicher, das auch Schüler aus dem Trierer Land besuchen.

 Ob der Sport sie so jung gehalten hat? Ihre 60 Jahre sieht man der ehemaligen Athletin Silvia Schwandke nicht an.

Ob der Sport sie so jung gehalten hat? Ihre 60 Jahre sieht man der ehemaligen Athletin Silvia Schwandke nicht an.

Foto: TV/Christian Altmayer

Silvia Schwandke atmet tief ein. Sie senkt den Kopf, blickt auf die Bahn. Etwa 30 Meter bleiben bis zum Absprung. Schwandke läuft los – mit großen Schritten. Nur noch wenige Meter. Die Turnschuhe fliegen über den Boden. Eins, zwei, drei.  Sie stößt sich ab, schleudert die Arme empor  wie zum Jubel. Die Beine streckt sie, als würde sie sich auf einen Stuhl in der Luft setzen. Einige Sekunden schwebt sie über den Boden. Dann landet sie im Sand.

Als Silvia Schwandke an Weitsprung-Wettkämpfen teilnimmt, ist sie noch eine Jugendliche. In den 1970er Jahren geht sie in Mecklenburg, in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR), zur Schule. Es ist nicht irgendeine Schule, sondern ein Sport-Internat in Neubrandenburg. Die junge Frau ist sich sicher: Sie wird einmal Berufsathletin. Zwei- bis dreimal die Woche trainiert sie. Montags bis freitags läuft Schwandke, schwimmt und hebt Hanteln. Am Wochenende fährt sie zu Wettkämpfen in die Stadien. Es geht auch schon mal ins Ausland, in die damalige Tschechoslowakei. Heute bezeichnet sich die 60-Jährige als „kleines Licht“. In der DDR habe sie unter den ersten zehn Spitzenathleten im Weitsprung mitgemischt. Wenn sie von dieser vergangenen Zeit spricht, schwingt noch immer ein bisschen Wehmut in ihrer Stimme mit. Denn ihr Traum vom Berufssport zerplatzte schnell und früh.

1978 fällt Schwandke wegen diverser Verletzungen immer wieder aus. Etliche Operationen lässt sie über sich ergehen. Doch sie helfen alle nicht. Also trifft sie eine Entscheidung, ganz kurzfristig wie sie heute sagt. Sie beschließt, Lehrerin zu werden. 40 Jahre später soll die ehemalige Athletin aus Mecklenburg die Leitung eines genossenschaftlichen Gymnasiums in Speicher übernehmen. Wie kommt das?

Eine neue Berufung Neben dem Sport gibt es noch eine andere Sache, die der jungen Schwandke Spaß macht. Wenn sie nicht gerade in der Turnhalle trainiert, gibt sie ihren Mitschülern Nachhilfe. Welches Fach? „Alle Fächer“, sagt sie heute und lacht. Die Kinder treffen sich im Fahrradschuppen neben der Schule. Schwandke lernt mit ihnen für Klassenarbeiten, fragt Vokabeln ab. So erscheint es ihr, als sie die Leichtathletik aufgibt, ganz natürlich, Lehrerin zu werden. Dem Sport ist sie dennoch treu geblieben.

In Zwickau studiert sie Deutsch und klar: Sport. Später, 1985, promoviert sie. Auch das Thema ihrer Doktorarbeit dreht sich um Athletik und Training. Im Auftrag des Bildungsministeriums findet sie heraus, wie Muskeln am schnellsten und am nachhaltigsten aufgebaut werden können. Das Ergebnis ihrer Arbeit findet Eingang in den Lehrplan der DDR. Danach arbeitet sie als Sportlehrerin an einer Ingenieurhochschule. Doch die Hochöfen in der Industriestadt Zwickau setzen der Lunge ihres asthmakranken Sohnes zu. Also zieht sie mit ihren beiden Jungen zurück nach Neubrandenburg. Hier stampft sie mit einem Team aus Lehrern und Wissenschaftlern eine pädagogische Hochschule aus dem Boden.

Eine neue Suche: Lange tätig war sie dort nicht. 1990, nach dem Mauerfall, wurde der Studentensport, für den sie zuständig war, eingestellt. In Ostdeutschland war er noch verpflichtend gewesen. In der Bundesrepublik wurde diese Verbindlichkeit an allen Universitäten abgeschafft. Studentensport war fortan fakultativ. Das heißt: Hauptamtliche wie Schwandke wurden nicht mehr gebraucht. Nach der Wende beginnt für Schwandke also eine Zeit der Suche nach Arbeit. Sie bewirbt sich auf viele Stellen, ist in wechselnden Leitungspositionen an verschiedenen Schulen für benachteiligte und schwererziehbare Kinder tätig – später an einem sogenannten Kreativcampus. Es habe lange gedauert, bis sie irgendwo wirklich ankam. Womöglich hat sie erst an der Mosel eine neue Heimat gefunden – beruflich wie privat.

Eine neue Liebe: Die 60-Jährige erinnert sich gut daran, als ihre Cousine ihr das erste Mal von der Region erzählt. „Du fährst an die Mosel?“, fragt sie ihre Verwandte. „Da fahren doch nur alte Leute hin!“ Damals entdecken ostdeutsche Touristiker Rheinland-Pfalz für sich. Sie organisieren Busreisen für Senioren. Da wollen Schwandke und ihr Ehemann anfangs nicht mitziehen. Doch sie machen sich schlau im Internet. 2010 bucht das Paar einen Urlaub in Piesport. Sie ahnen nicht, dass sie fünf Jahre später in dem Moselort wohnen werden. Bald verbringen sie jeden Urlaub hier, finden Freunde. Mit jedem Besuch verliebt sich Schwandke mehr in die Gegend. 2015 trifft die Familie dann die Entscheidung, ihr Haus in Mecklenburg zu verkaufen und ein neues in Piesport zu erwerben. Ihre Söhne und Eltern bleiben in Ostdeutschland. Ihr Vater sagt: „Ich kann nicht verstehen, warum du in den Westen ziehst.“ Sie sagt: „Ich will dort alt werden.“

Inzwischen ist sie aktiv im Piesporter Sportverein. An den Wochenenden feuert sie den SV Niederemmel auf dem Fußballplatz an. Auch ihre Kindheit habe sie praktisch am Rand des Spielfelds verbracht, erzählt Schwandke. Ihr Vater sei Spieler und später Trainer einer Mannschaft in Mecklenburg gewesen. Manche Dinge ändern sich nie.

So wie die Liebe zu ihrer Wahlheimat. Die Schmetterlinge im Bauch sind nach drei Jahren nicht verflogen. Wenn Schwandke zu ihrer aktuellen Arbeitsstelle nach Trier fährt, nimmt sie immer die Landstraße an der Mosel vorbei. So kann sie unterwegs anhalten, wenn ihr danach ist. Und den Anblick des Flusses genießen, wie er sich durch das Tal schlängelt, im Licht der Sonne glänzt wie ein goldenes Band. „Auf die Autobahn kriegt mich nichts.“ Die Mosel werde ihr fehlen, wenn sie ihre neue Stelle in Speicher antrete, gibt sie zu. Auf dem Weg von Piesport in die Eifel zeigt sich das Gewässer nirgends. Es ist nur ein kleiner Wermuts­tropfen bei der neuen Herausforderung, auf die sie sich freut.

Zurzeit führt sie bei der Deutschen Angestellten Akademie noch Schüler ans Berufsleben heran. Sie hilft ihnen bei Bewerbungen und der Suche nach Ausbildungs- oder Praktikumsplätzen. Den neuen Vertrag hat sie aber schon unterschrieben.

Eine neue Aufgabe: Angestellt ist sie ab 1. Mai. Schon jetzt verbringe sie aber mindestens einen Abend in der Woche in Speicher. Die Zusammenarbeit mit den Genossen beschreibt sie als faszinierend: „Da ist jede Menge Energie dahinter. Da wird nicht nur geredet.“ Schwandke plant und organisiert mit, was es zu planen und organisieren gibt. Denn sie findet es wichtig von Anfang an dabei zu sein. Sie habe ja vor noch einige Jahre in der Schule zu verbringen. Die 60-Jährige wolle das Gymnasium auf Kurs bringen, bis sie dafür nicht mehr fit genug sei.

Auch den Lehrplan für den genossenschaftlichen Campus, der im August mit zwei fünften Klassen starten soll, hat sie entwickelt (Siehe Info). Was die Jungen und Mädchen mit Direktorin Schwandke erwartet?

„Eine kuschelige Schule, in die sie gerne gehen.“ Sie will für lächelnde Gesichter sorgen und dafür, dass kein Kind Angst haben muss vor Lehrern oder Mitschülern. „Wenn ich etwas von Mobbing mitbekomme, wird das unterbunden“, verspricht sie, „so etwas darf nicht sein.“ Neben den Leitungsaufgaben wird Schwandke übrigens auch unterrichten. Welches Fach? „Auf jeden Fall Sport.“ War ja klar.

  So erfolgreich wie die DDR-Medaillengewinnerin   Angela Voigt (Foto oben) war Silvia Schwandke nicht. Doch sie mischte  an der Spitze des DDR-Sportes mit.

So erfolgreich wie die DDR-Medaillengewinnerin Angela Voigt (Foto oben) war Silvia Schwandke nicht. Doch sie mischte  an der Spitze des DDR-Sportes mit.

Foto: picture alliance / dpa/dpa

Wer Schwandke kennenlernen will, hat heute im Speicherer Schulzentrum die Möglichkeit dazu. Ab 19 Uhr beginnt in der Aula eine Infoveranstaltung für Eltern, die ihr Kind am genossenschaftlichen Gymnasium anmelden wollen.

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