Neue Erkenntnisse zu Opfern des Nationalsozialismus in Bitburg

Bitburg · Auf der Spur von russischen Gefangenen, die im Zweiten Weltkrieg in Bitburg umgekommen sind, hat Heimatforscher Stephan Garçon womöglich den Standort des ehemaligen Seuchenlazaretts entdeckt. Dort soll den Gefangenen jegliche Hilfe versagt worden sein. Nun sind Zeitzeugen gefragt.

Bitburg. Es ist wie ein Puzzle. Stück für Stück entsteht ein Bild. Das Bild einer Zeit, die lange Jahre totgeschwiegen wurde. Der Nationalsozialismus. Auch in Bitburg hat die Nazi-Diktatur viele Opfer gefordert. Ehemalige Mitbürger jüdischen Glaubens wurden zur Flucht getrieben, verschleppt, ermordet. Wie viele, kann heute keiner mehr mit Gewissheit sagen. Fest steht inzwischen nur: Es sind mehr als bisher angenommen.
Vor knapp zwei Jahren hat der Stadtrat Stephan Garçon und den Stadtarchivar Peter Neu beauftragt, Licht ins Dunkel dieses Kapitels der Stadtgeschichte zu bringen (der TV berichtete). Erste Ergebnisse liegen vor. Im Februar soll ein Arbeitskreis gegründet werden (siehe Extra). Die Forschungsarbeit läuft weiter. Nun ist Garçon auf den möglichen Standort des ehemaligen Seuchenlazaretts gestoßen.
Als sich die Dichterin schämte


Eine Geschichte, die 1987 mit einer Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhof anlässlich der Reichspogromnacht beginnt. Damals ergriff Heimatdichterin Gerda Dreiser (1906 - 1991) überraschend das Wort. Nach einem Zeitungsbericht hat sie gesagt:

"1941 hat auf dem Bitburger Bahnhof ein Viehwaggon gehalten, mehr als 100 schwer kranke russische Kriegsgefangene als menschliche Fracht transportierend. In einem Propagandamarsch wurden sie durch die Stadt geführt. Ich habe mich noch nie so geschämt wie an diesem Tag."

Anschließend seien die Kriegsgefangenen in einem Seuchenlazarett in der Albachstraße interniert worden. Nach Angaben von Dreiser, die damals Rotkreuzschwester war, sei den Schwerkranken jegliche medizinische Hilfe versagt worden. Mehr als 135 Menschen, darunter auch 124 russische Kriegsgefangene, wurden 1944 in einem Massengrab auf dem jüdischen Friedhof in der Erdorfer Straße verscharrt. Der Weg in diese Vergangenheit ist schwer. Nur noch wenige Zeitzeugen leben.
Ein Seuchenlazarett an der Albachstraße? Für Garçon schloss sich ein Kreis, als er, eher zufällig, auf einem Weg von der Albachstraße stadtauswärts hinter den Bahngleisen entlangspazierte. Schwere Betonpfeiler, an denen teils noch rostiger Stacheldrahtzaun hängt, umranden dort ein Grundstück, das mit wildwachsenden Hecken und Sträuchern zugewuchert ist. Was Garçon stutzig macht: "Wer würde schon so aufwendig seinen Garten sichern?" Mit Blick auf die massiven Pfeiler sagt er: "Die wurden professionell vor Ort gegossen." Hinzu kommt: Die Pfeiler sind alle nach innen, also zum Grundstück hin, abgeknickt. "So, als hätte man verhindern wollen, dass jemand von dort nach draußen gelangt", sagt Garçon.
Grundstück gehört der Stadt


Erste Recherchen haben ergeben, dass das Grundstück seit Jahrzehnten der Stadt gehört. Zuvor war es in Privatbesitz. Garçon vermutet, dass dort einst das Seuchenlazarett stand: "Womöglich hatte die Wehrmacht diese Flächen gepachtet. Ich werde nun im Wehrmachtsarchiv weiter nachhaken."
In den Kriegsjahren standen hinter den Bahngleisen stadtauswärts noch keine Wohnhäuser. "Ein Seuchenlazarett hätte man ja kaum mitten in ein Wohngebiet gestellt", sagt Garçon. Er hofft, dass Bitburger mit Hinweisen weiterhelfen können: "Jetzt haben wir noch die Chance, Augenzeugen zu finden."
Die russischen Kriegsgefangenen sind in den Jahren zwischen Winter 1941 und Winter 1944 gestorben. Das geht aus Unterlagen der deutschen Wehrmacht hervor, die Garçon von der russischen Botschaft bekommen hat. Sie wurden Anfang der 50er Jahre aus dem Massengrab exhumiert.
Einer der Männer, die möglicherweise in diesem Massengrab beerdigt worden sind, war Nikolaj Wassilenko. Über den Internationalen Suchdienst hat Garçon einen Angehörigen dieses Mannes ausfindig gemacht. Ein Neffe, der in Ustimowka in der heutigen Ukraine, damals Sowjetunion, lebt. Nach Akten der Pfarrei Liebfrauen wurde Wassilenko definitiv auf dem Friedhof in der Erdorfer Straße begraben, wo genau, geht aus den Akten aber nicht hervor. Möglicherweise in dem Massengrab. Wassilenko wird wohl, wie so viele, ein Opfer der Nazis in Bitburg bleiben, ohne Grabstein, ohne Geschichte.
Wer Hinweise zu den Kriegsgefangenen geben kann, etwas über das Seuchenlazarett oder das Grundstück an der Albachstraße weiß, wird gebeten, sich bei Stephan Garçon, Adrigstraße 17, 54634 Bitburg, unter Telefon 06561/67639 oder unter
stiwie1@t-online.de zu melden.
Extra

45 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde, die es vor 1933 in Bitburg gab. An diese Menschen erinnert heute nichts mehr. Die zerstörte Synagoge wurde nach dem Krieg ganz abgerissen. Deshalb haben die Grünen im Stadtrat vor knapp zwei Jahren angeregt, Stolpersteine zu verlegen. Der Stadtrat entschied 2011, dass zunächst erforscht werden sollte, wie viele Opfer das Nazi-Regime in Bitburg gefordert hat. Damit wurden Stadtarchivar Peter Neu und Stephan Garçon beauftragt. Im Februar soll sich offiziell ein Arbeitskreis gründen, in dem sich neben Neu und Garçon auch Henri Juda aus Echternach, dessen Vater Karl einst vor den Nazis aus Bitburg geflüchtet ist, Burkhard Kaufmann, Leiter des Kreismuseums, Bürgermeister Joachim Kandels und Vertreter der Ratsfraktionen engagieren. Auch interessierte Bürger können sich anschließen. Ziel ist es, die Idee einer ständig zu aktualisierenden Internetplattform mit Forschungsergebnissen weiterzuentwickeln. Auch die Diskussion über die Stolpersteine soll nochmals aufgegriffen werden. scho

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