"Wenn es brennt, musst du laufen!"

Gerade fünf Jahre alt geworden, freute ich mich, wie alle Kinder, auf das Weihnachtsfest. Am Nachmittag des 24. Dezember hörte ich, wie meine Mutter sagte: "Das wird kein frohes Fest. Gerolstein haben die heute schon bombardiert, da sind wir auch bald dran." "Wir", damit meinte sie unser Dorf Mürlenbach, das, an der Bahnstrecke Köln-Trier gelegen, zur Nachschubbasis der in den Ardennen kämpfenden deutschen Truppen zählte.

Sie zeigte durchs Fenster auf das Bahnhofsgelände links der Kyll und erklärte mir: "Wenn es dort brennt, dann musst du laufen." Auch mir Knirps war sofort klar: "Laufen", das hieß Abhauen in Richtung Hardter Berg, in den Bautrupps des Militärs schon vor Monaten Schutzräume getrieben hatten. Als ich ins Bett ging, war noch alles ruhig. Im Nachtgebet aber klang die Bitte um Schutz besonders inbrünstig. Irgendwann dann riss meine Mutter mich aus Schlaf und Bett, warf mir eine Decke über und keuchte: "Wir müssen, wir müssen laufen, laufen!" Wir hasteten die Treppe hinab auf die Straße. Ein Blick zur Kyll. Jenseits des Flusses war das Bahnhofsgelände vom Feuer hell erleuchtet. Schon färbte sich der Himmel glutrot, und heftige Detonationen ließen die Erde beben. Wir rannten - möglichst im Schutz der Häuser - in Richtung Kirche. Am Haus Neustadt Nummer 6 presste meine Mutter mich unter einem Mauervorsprung gegen die Hauswand und schützte mich mit ihrem Körper. Ich fühlte Mörtelschutt in meinen Nacken fallen und wie Mutter zitterte. Hausbewohner holten uns in die Küche, wo wir noch andere Leute aus dem Dorf vorfanden, die ihre Flucht ebenfalls hier unterbrochen hatten. Je häufiger und heftiger die Detonationen aufeinander folgten, desto deutlicher die Angst der Anwesenden und um so klarer die Notwendigkeit: Wir müssen hier raus! Also hasteten wir weiter in Richtung Bunker. An der Einmündung der Schönecker Straße in die Neustadt stolperten wir über herabgefallene Stromleitungen und stürzten zu Boden. Soldaten liefen herbei, halfen uns auf und zerrten uns am Kirchturm vorbei die verbliebenen 50 Meter zum südlichen Bunkereingang. Die immer heftiger werdenden Explosionen ließen auch hier die Erde beben, doch fühlten wir uns im Berg nun sicherer. Ständig drängten Menschen herein. Bald entstand, bedingt durch die Menge der Schutzsuchenden, im Raum hinter dem östlichen Bunkereingang Sauerstoffmangel. Leute trauten sich zum Durchatmen ins Freie. Zurückkehrend schleppten sie Verwundete mit und berichteten von weiteren Verletzten sowie von Soldaten und Zivilisten, die den Tod gefunden hatten. Wir hörten auch, dass Häuser entlang der Bahn in Flammen standen und auch unser Haus diesseits der Kyll von einer Granate getroffen worden sei. Am Weihnachtsmorgen zeigte sich das ganze Ausmaß des nächtlichen Infernos. Jagdbomber der Alliierten hatten einen auf der Strecke stehenden Munitionszug in Brand geschossen, wodurch die Ladung und die auf dem Bahnhofsgelände lagernden Granaten und Treibstoffvorräte in die Luft geflogen waren. Im weiten Umkreis lagen Trümmer von Waggons herum. Selbst in den Bäumen des diesseits der Kyll liegenden so genannten Krankenwaldes hingen Trümmer. Sogar in Birresborn waren in der Nähe des Bahnhofs Granaten aus Mürlenbach eingeschlagen. Aus den Einsatzberichten der angreifenden Kampfpiloten (operations record book page No. 6) wissen wir, dass Trümmer bis in 4000 Fuß Höhe geschleudert wurden. Manfred Gerard, Jahrgang 1939, lebt heute noch in Mürlenbach. Seinen Bericht hat sein Freund Walter Kaulen aufgezeichnet. Er berichtet, Manfred Gerard habe während des Erzählens erhöhten Puls und erhöhte Atemfrequenz gehabt, und das 60 Jahre nach den Ereignissen des Krieges.

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