Justiz „Ein schwarzer Tag für die Grundrechte“

Karlsruhe/Mainz/Bitburg · Der ehemalige Landrat Joachim Streit kritisiert heftig das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse.

 Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat zu den Einschränkungen  entschieden: „Der Schutz von Leben und Gesundheit rechtfertigt demnach auch sehr einschneidende Maßnahmen.“

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat zu den Einschränkungen  entschieden: „Der Schutz von Leben und Gesundheit rechtfertigt demnach auch sehr einschneidende Maßnahmen.“

Foto: dpa/Uli Deck

Es sind drastische Worte, mit denen  Joachim Streit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Bundesnotbremse kommentiert. Von einem „schwarzen Tag“ für die Grundrechte spricht der ehemalige Landrat des Eifelkreises Bitburg-Prüm und jetzige Fraktionschef der Freien Wähler im Landtag.  Die Karlsruher Richter hätten die Regierung mit einem Freifahrtschein für Grundrechtseinschränkungen ausgestattet. „Karlsruhe hat versagt“, empört sich Streit, der einer der Kläger gegen die mit der Bundesnotbremse vorgesehenen Ausgangssperre war. Bund und Länder verständigten sich im April auf die Bundes-Notbremse. Damit sollte sichergestellt werden, dass überall im Land dieselben Maßnahmen greifen, sobald sich die Corona-Lage in einer Region zuspitzt. Die Notbremse musste automatisch gezogen werden, wenn die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an mehreren Tagen die 100 überschritt. Unter anderem sollten Schulschließungen und Ausgangssperren je nach Infektionslage angeordnet werden.

Als Landrat musste Streit für den Eifelkreis entsprechend eine Ausgangssperre anordnen. Gemeinsam mit seiner Frau klagte der Privatmann Streit gegen diese Anordnung. Vor drei Wochen hatte das Trierer Verwaltungsgericht Streit recht gegeben. Laut dem Gericht haben die Voraussetzungen für die Anordnung zwar vorgelegen, es habe aber in dem Kreis einen Ausnahmefall gegeben: Das damalige Infektionsgeschehen habe sich auf die am südöstlichen Rand des Kreisgebietes gelegene Verbandsgemeinde Speicher konzentriert. Im Vergleich zur VG Speicher sei die Sieben-Tage-Inzidenz in den angrenzenden Verbandsgemeinden bis zum Erlass der Verfügung deutlich unter 100 abgesunken. Da dieses Ermessen weder vom beklagten Landkreis, noch vom Ministerium ausgeübt worden sei, sei die Regelung rechtswidrig.

Er habe „großen Respekt“ vor dem Virus und habe als Landrat alles dafür getan, dessen Ausbreitung einzudämmen, etwa indem er als einer der ersten im vergangenen Jahr noch vor dem ersten Lockdown alle Veranstaltungen im Eifelkreis untersagt habe, sagte Streit am Dienstag bei einer Pressekonferenz seiner Fraktion in Mainz. Eine Ausgangssperre in einem dünnbesiedelten Gebiet wie der Eifel sei aber unangemessen gewesen.

Er sei entsetzt über das Karlsruher Urteil, sagte Streit unserer Redaktion. Das Gericht trage mit seiner Entscheidung weiter zur Spaltung der Gesellschaft bei. Damals hätte er bei einer Inzidenz von über 100 nicht gemeinsam mit seiner Frau abends spazieren gehen dürfen und heute, bei Inzidenzen, die drei bis vier Mal so hoch seien, feierten 50 000 Menschen in einem Stadion. „Und das ist nicht verboten“, ärgert sich Streit. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeige eine fehlende Verhältnismäßigkeit. „Das Gericht fragt nur noch danach, ob der Gesetzgeber an die Maßnahmen, die er ausspricht, geglaubt hat. Damit entmachtet das Bundesverfassungsgericht sich praktisch selbst, indem es die Überprüfung im Einzelfall nicht mehr vornimmt“, kritisiert Streit. Nico Härting, Anwalt von Streit und Prozessbevollmächtigter, kritisierte, dass das Bundesverfassungsgericht keine rote Linie für Grundrechtseinschränkungen festgelegt habe. Weite Teile der Entscheidung würden sich wie eine Rechtfertigung der Regierungspolitik lesen. Härting kündigte an, zu prüfen, mit der Klage vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen.

Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sah nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Klarheit für weitere Krisenmaßnahmen. „Die Bundesnotbremse war verhältnismäßig, weil der Staat Leben und Gesundheit seiner Bürger schützen musste“, sagte er. Der designierte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht nach dem Urteil keine Notwendigkeit für eine Kurskorrektur der Ampel-Parteien. Für die zur FDP gehörenden Beschwerdeführer sagte er aber, dass „wir uns natürlich insbesondere mit Blick auf die Ausgangssperren ein anderes Ergebnis gewünscht hätten“. Die Entscheidung zeige, dass eine Bundesregierung „einen sehr weiten Spielraum bei der Beurteilung der Lage und auch bei der Wahl der Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie“ habe, sagte Buschmann. SDP, Grüne und FDP hätten sich in ihrem Maßnahmenpaket gegen Ausgangssperren entschieden, „weil wir eben nicht der Meinung sind, dass es etwas bringt, Menschen nachts zu verbieten, vor die Tür zu gehen“, sagte Buschmann. „Nicht das Verlassen der Wohnung ist gefährlich, sondern der Kontakt mit Menschen.“ Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht in der Karlsruher Entscheidung einen Fingerzeig für die weitere Corona-Politik. Vor der Bund-Länder-Runde über das weitere Vorgehen forderte er eine Rückkehr zur Bundesnotbremse.

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