Familiengeschichte Fluchthelfer-Sohn sucht Flüchtling

Kelberg-Zermüllen/Berlin · Seit langem schon ist Michael Stienz auf der Suche nach Einzelheiten aus dem Leben seines Vaters, des Regisseurs und Drehbuchautors Erwin Kasch alias Zauberer Marno. Nun ist er auf eine Fluchthelfergeschichte gestoßen.

 Eine Seite in einem Fotoalbum war für Michael Stienz der Auslöser für die Recherchen über seinen Vater Erwin Kasch, der sich auch als Fluchthelfer betätigte. TV-Foto: Brigitte Bettscheider

Eine Seite in einem Fotoalbum war für Michael Stienz der Auslöser für die Recherchen über seinen Vater Erwin Kasch, der sich auch als Fluchthelfer betätigte. TV-Foto: Brigitte Bettscheider

Foto: Brigitte Bettscheider (bb) ("TV-Upload Bettscheider"

Kelberg-Zermüllen/Berlin Michael Stienz (61) erinnert sich gern an seine Kindheit in Berlin-Charlottenburg. "Mein Vater ist sehr liebevoll mit mir umgegangen", erzählt er. Doch 1965 trennten sich die Wege seiner Eltern. Die Mutter zog in die Schweiz, der Vater pendelte - bereits schwer erkrankt - zwischen Berlin und München, der Junge kam in ein Internat in der Nähe von Hannover.
1967 starb der Vater im Alter von nur 50 Jahren. Es war der bekannte Sportler, Filmproduzent, Regisseur und Drehbuchautor Erwin Kasch, der sich unter dem Künstlernamen "Marno" auch als Zauberer Berühmtheit verschafft hatte. Und als Fluchthelfer fungierte. Dazu später mehr.
Michael Stienz lernte nach der Schule Landwirt, Kaufmann und Altenpfleger. Privat knüpfte er das Band in die Eifel: Seit 1989 lebt er im Kelberger Ortsteil Zermüllen, ist verheiratet und Vater von erwachsenen Zwillingen. Was über all die Jahrzehnte geblieben ist: sein Wunsch, das Leben seines Vaters zu rekonstruieren.
Den Ausschlag gab ein Familienalbum, in dem er die Fotografie eines Filmplakats aus dem Jahr 1946 entdeckte, darauf sein Vater und die Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich. Es sollte die Initialzündung für seine bis heute nicht nachlassende Recherche über seinen Vater werden. Michael Stienz war zig Mal in Berlin, traf dort auf Zeitzeugen wie den Jazzmusiker Coco Schumann, besuchte Museen und stöberte in Archiven.
Er ersteigerte historische Zeitschriften und Zeitungen, recherchierte in Büchern und im Internet und setzte das Mosaik allmählich zusammen. "Mein Plan ist, das Leben meines Vaters in einem Buch zu dokumentieren", sagt er.
Darin soll nicht nur die berufliche Seite des Lebens von Erwin Kasch alias Zauberer Marno beleuchtet werden, sondern es wird auch von seiner Fluchthilfe die Rede sein. Denn Michael Stienz ist jüngst auf einen Artikel in der "Berliner Zeitung" (BZ) von Ende 1955 gestoßen.
Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: "Gestern am Potsdamer Platz: Ein Kind wird geraubt!" Es ging um den damals neunjährigen Bernd Schmidtke und seine Mutter Johanna, die laut BZ unter den annähernd 23 000 Ostberlinern waren, die allein 1955 in den Westen flohen.
Mutter und Sohn waren im Flüchtlingsheim Stauffenbergstraße untergekommen. Am 30. November hielten sich die beiden am Potsdamer Platz auf, als plötzlich DDR-Volkspolizisten und eine DDR-Schalterbeamtin auftauchten, Johanna und Bernd Schmidtke ergriffen und sie die S-Bahn-Treppe Richtung Ostberlin herunterschleppten. Passanten versuchten vergeblich einzugreifen. Zufällig war ein Fotograf anwesend, und so landete die Geschichte auf Seite 1 der Berliner Zeitung.
"Das muss mein Vater gelesen haben", glaubt Michael Stienz. Als Charlottenburger habe er ja frei reisen dürfen. Er habe unter Gefahr für sein Leben und seine Freiheit Kontakt zu der Familie aufgenommen, sei in die Uckermark gefahren, habe Bernd dort bei dessen Großeltern abgeholt und ihn mit nach Westberlin genommen.
"Er muss ihn als seinen eigenen Sohn ausgegeben haben", meint Michael Stienz. Die Berliner Zeitung berichtete abermals - mit einem Foto von Zauberer Marno und seinem Schützling auf der Westseite des Brandenburger Tors und mit der Information, dass die Mutter inzwischen alleine habe fliehen können und die Familie im Westen wieder vereint sei.
Den Neunjährigen von damals würde er gerne kennen lernen, erklärt der Fluchthelfer-Sohn Stienz und setzt auf den Zufall, dass sich der Flüchtling aus dem Jahre 1955, der heute 70-jährige Bernd Schmidtke, bei ihm meldet.
Vielleicht wird auch jemand hellhörig, der weiß, was aus Bernd Schmidtke geworden ist, hofft Stienz.

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