Kommentar Der Wahrheit ins Gesicht schauen

Fünf Jahre lang wurde die französische Nationalversammlung im Bewusstsein ihrer Landsleute kaum wahrgenommen. Emmanuel Macron hatte sie zu einer Handlangerin seiner Politik degradiert. Bis er am Sonntag seine absolute Mehrheit verlor.

 Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, steht vor dem Elysee-Palast während er Belgiens Premierminister Croo empfängt.

Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, steht vor dem Elysee-Palast während er Belgiens Premierminister Croo empfängt.

Foto: picture alliance/dpa/AP/Michel Euler

Parlament? Welches Parlament? Fünf Jahre lang wurde die französische Nationalversammlung im Bewusstsein ihrer Landsleute kaum wahrgenommen. Emmanuel Macron hatte sie zu einer Handlangerin seiner Politik degradiert. Kaum Debatten, kein Widerstand - alles lief gut für den Präsidenten. Bis er am Sonntag seine absolute Mehrheit verlor. Und zwar so deutlich, dass statt des Elysée-Palasts nun das Palais Bourbon, der Sitz der Volksvertretung, in den Mittelpunkt des politischen Lebens rückt.

Frankreich hat künftig ein Parlament, das mehr als nur der verlängerte Arm des Staatschefs ist. Das Wahlergebnis vom Sonntag wertet die Nationalversammlung eindeutig auf. Es legt aber auch die Spaltung offen, die das Land schon seit Jahren durchzieht. Mit drei unversöhnlich nebeneinander stehenden Blöcken in der Mitte, am rechten und linken Rand, die nun in der Assemblée Nationale zum ersten Mal klar zu erkennen sind.

Schon werden erste Vergleiche zur Weimarer Republik gezogen, in der radikale Strömungen die politische Mitte zerquetschten - mit dem bekannten dramatischen Ende. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen wittert acht Wochen nach ihrer Niederlage in der Stichwahl um das Präsidentenamt bereits Morgenluft. Sie zieht mit 89 Abgeordneten und der größten Oppositionsfraktion in die Assemblée Nationale ein. Als Fraktionschefin wird sie das Palais Bourbon nun zu ihrer Bühne machen, um den Boden für einen Sieg 2027 zu bereiten. Und ihre Chancen stehen seit ihrem Erfolg am Sonntag besser denn je.

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Macron, der vor fünf Jahren mit seinem Elan überzeugte, wirkt dagegen in der neuen Gemengelage wie gelähmt. Als komme das, was passierte, in den ehrgeizigen Plänen des einstigen Jungstars einfach nicht vor. Der Staatschef, der seine Entscheidungen stets einsam im Elysée-Palast traf, wollte wie Jupiter über dem Geschehen thronen. Nun muss er sich in Koalitionsverhandlungen die Hände schmutzig machen.

Doch dem Präsidenten bleibt nur das direkte Gespräch mit den politischen Gegnern, um die Blockade des Landes aufzulösen. Seine Idee eines von ihm selbst einberufenen „Rates der Erneuerung“ kann er begraben. Frankreich hat für solche Zwecke ein Parlament und genau dort gehören Reformprojekte auch hin. Macron täte gut daran, der politischen Realität des Landes endlich ins Gesicht zu schauen, statt sie hinter immer neuen politischen Gremien zu verstecken. Die Französinnen und Franzosen nehmen ihm eine solche Kosmetik ohnehin nicht mehr ab. Das haben die Parlamentswahlen gezeigt.

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