Gedenkstätte Auf der (Hör-)Spur eines KZ-Häftlings in Hinzert-Pölert

Hinzert-Pölert · Besucher in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Hinzert gehen mit Hilfe eines Smartphone-Programms (App) auf den Spuren des fiktiven Häftlings Lycien. Sie kommen der Geschichte des Ortes dabei auf eine besondere Art nahe.

 Das dokumentarische Gedenken in Hinzert wird mit Künstlerischem ergänzt: Im Gebäude ist ein altes Foto des Lagers ins Fenster geklebt, sodass das Gelände dahinter durchscheint. Die neue App legt nun eine Hörspur über das Außengelände des ehemaligen Konzentrationslagers.

Das dokumentarische Gedenken in Hinzert wird mit Künstlerischem ergänzt: Im Gebäude ist ein altes Foto des Lagers ins Fenster geklebt, sodass das Gelände dahinter durchscheint. Die neue App legt nun eine Hörspur über das Außengelände des ehemaligen Konzentrationslagers.

Foto: TV/Katharina Fäßler

Mit Kopfhörern auf den Ohren und dem Smartphone in der Hand schlendert Nico Czaja über ein weites grünes Feld, weicht hin und wieder einem Maulwurfshügel aus, bleibt plötzlich stehen. Weiter drüben drehen sich Windräder, man hört Lastwagen auf der nahe gelegenen Autobahn 1 vorbeirauschen.  Nichts deutet darauf hin, dass auf diesem Gelände in Hinzert-Pölert bei Hermeskeil vor etwa 77 Jahren Gebrüll, Schweiß, Angst und Tod den Alltag bestimmten, als die Nazis hier in sechs Jahren mehr als 13 000 Männer gefangen hielten und zur Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen zwangen. Darunter auch Luxemburger Widerstandskämpfer und sowjetische Kriegsgefangene, die in Hinzert ermordet wurden. Es ist schwer, sich das heute hier vorzustellen, denn vom einstigen Lager selbst fehlt jede sichtbare Spur.

Doch Czaja kann es hören. Sein Blick richtet sich scheinbar abwesend auf die entfernten Hügel, während aus seinen Kopfhörern verzerrte Töne erklingen, als öffne sich ein ungeöltes Eisentor. Trotz Sonne fröstelt er. Dann spricht eine Männerstimme.


Der Autor
Czaja kennt die Geschichte des fiktiven Häftlings Lycien, der hier beginnt, seinen Alltag im Konzentrationslager Hinzert zu beschreiben. Czaja hat die Geschichte geschrieben. Doch wie heute hat er sie noch nie gehört. Das liege an ihrer digitalen Aufbereitung. Die App mit dem Namen Hörspur, die die Geschichte steuert, reagiere auf den Weg im Feld, den ein Besucher einschlage. So erlebe jeder eine etwas anders erzählte Geschichte mit gleicher Grundstimmung, aber unterschiedlichen Schwerpunkten.

In der Welt der Computerspiele ist ein großes Ziel der Entwickler, dass Spieler ganz in die fiktive Welt eintauchen. Das nennen sie Immersion. Nico Czaja erklärt: „Auch die selbstbestimmte Interaktion der Hörspur-App ruft eine Form der Immersion beim Zuhörer hervor, die ihn stark in die Geschichte hineinzieht.“ Die App wurde in Kooperation mit Studierenden der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken aus dem Fach Kommunikationsdesign und der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz in einem dreieinhalbjährigen Prozess entwickelt.


Die Geschichte vor Ort hören
Nico Czaja erklärt: „Mit der App hatten wir die Möglichkeit, die Vergangenheit dieses eher unauffälligen Ortes hervorzuholen und im Vorstellungsvermögen des Hörers über die idyllische Landschaft zu legen. Während man das hört, setzt man es in Beziehung zu dem, was man sieht, und das verstärkt die Wirkung immens. Damit zu arbeiten, fand ich künstlerisch total spannend.“ Für die Besucher bedeutet das: Die App sollte man sich bestenfalls bereits Zuhause kostenlos auf sein Smartphone herunterladen. Gestartet werden kann die Hörgeschichte aber erst vor Ort.

Dort hört man aus den Kopfhörern einen langgezogenen dumpfen Ton. Die Stimme des fiktiven Lycien sagt: „Sieh auf das Feld, über das du hierhin und dorthin wandelst als wäre es die leichteste Sache der Welt. Stell dir das Gegenteil vor. Durch die kleinen vergitterten Fenster fällt selbst tagsüber kaum Licht. 23 Zellen. Eng. Schmal. Man kann sich kaum der Länge nach darin ausstrecken.“


Kunst und Inszenierung
Der künstlerische Aspekt der fiktiven interaktiven Geschichte soll ein ergänzender und emotionalerer Zugang zum bereits vorhandenen dokumentarischen Zugang der Gedenkstätte sein, erklärt Czaja. Uwe Bader von der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz ergänzt, dass dabei die besondere Herausforderung des Projekts gewesen sei, mit der Inszenierung allen betroffenen  Gruppen gerecht zu werden. Damit meint er nicht nur die Entwickler, sondern auch Geschichtswissenschaftler, Opfergruppen und die verschiedenen Besucher-Zielgruppen. Deshalb habe die Entwicklung auch so lange gedauert.

Man müsse in einer Gedenkstätte mit fiktiven Inszenierungen sensibler umgehen als zum Beispiel im Museum, findet Bader. Auch Czaja gesteht, dass dieser Aspekt für ihn anfangs etwas einschüchternd war. Er habe die Geschichte anhand dokumentierter Zeitzeugenerzählungen geschrieben, immer in Rücksprache mit Bader und Beate Welter, der Leiterin der Gedenkstätte, um den richtigen Ton zu treffen. Die beiden haben den Zeitzeugen Marcel Petit noch selbst gekannt, der bis zu seinem Tod im Jahr 2010 Führungen in Hinzert gegeben hatte. Bader glaubt: „Marcel Petit wäre angetan gewesen von der App, weil die Besucher damit die Perspektive der Häftlinge einnehmen. Der erweiterte Blick geht nun auch von innen aus dem Lager heraus, statt von außen auf das Lagergelände zu schauen.“
Weiterentwicklung des Gedenkens Gekostet hat die Entwicklung bisher etwa  45 000 Euro. Das sei allerdings sehr günstig gewesen, weil man es mit der universitären Lehre habe verbinden können und weil vielen Mitwirkenden das Projekt so gefallen habe, dass sie weniger verlangten, sind sich Bader und Czaja einig.

 Nico Czaja hat eine Geschichte für die Gedenkstätte Hinzert geschrieben.

Nico Czaja hat eine Geschichte für die Gedenkstätte Hinzert geschrieben.

Foto: TV/Katharina Fäßler

Die Nutzung des Geländes sei auch erst möglich, seit das Land Rheinland Pfalz 98 Prozent des ehemaligen Häftlingslagergeländes erworben habe. Nun seien auch weitere Planungen möglich, wie die eines zweiten Gebäudes hinter der Gedenkstätte. Ein nächster Schritt für die HÖRspur-App sei aber zuerst eine holländische und eine englische Übersetzung.

Der Häftling Lycien aus den Kopfhörern redet also bisher nur auf Deutsch. Er erzählt von erhöhten Bretterwegen zwischen den Baracken. Man sieht unwillkürlich auf seine Füße, beobachtet die eigenen Turnschuhe, die langsam über die Gänseblümchen und Grashalme streifen.

Vermutlich gab es die Bretterwege damals aufgrund des allgegenwärtigen braunen Matschs. Man fühlt sich ganz nah dran und versteht, dass der Matsch der gleiche ist und noch immer unter dieser grünen Wiese liegt.

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