Ayler Odyssee durch den Hochwald

Ayl/Hermeskeil/Gusenburg · Die Mutter schwanger im Krankenhaus, der Vater als Schmied beim Volkssturm - vier Wochen lang waren Anneliese Kaypinger und ihre drei Geschwister nach der Evakuierung des Saargaus auf sich allein gestellt.

 Anneliese Kaypinger erzählt, wie sie im Jahr 1944 aus Ayl evakuiert wurde. Rechts im Bild: Ehemann Ernst. TV-Foto: Tobias Senzig

Anneliese Kaypinger erzählt, wie sie im Jahr 1944 aus Ayl evakuiert wurde. Rechts im Bild: Ehemann Ernst. TV-Foto: Tobias Senzig

Ayl/Hermeskeil/Gusenburg. Der Saargau im November 1944. Früher Frost kündigt einen harten Winter an. Seit der Landung der Alliierten in der Normandie rückt die Westfront unaufhaltsam auf die kleinen Ortschaften zwischen Saar und Obermosel zu. Auf dem Gebiet vor den Bunkern des Westwalls, der am rechten Ufer der Saar verlief, rechnet das Militär mit schweren Kämpfen.

MENSCHEN GANZ NAH


"Ende November sagte man uns, dass wir jederzeit damit rechnen mussten, das Dorf zu verlassen", erinnert sich Anneliese Kaypinger. Die 78-Jährige hat den Krieg hautnah erfahren. Gemeinsam mit ihren drei Geschwistern ist die damals Elfjährige vor der Front in den Hochwald geflohen. In einem Schulhaus im kleinen Ort Höfchen waren die vier Kinder wochenlang auf sich alleingestellt - inmitten von Flugzeugangriffen und Bombenhagel.
Die Aylerin, die heute im Nachbarort Biebelhausen lebt, kann sich noch gut an die Evakuierung erinnern. "Meine Mutter war damals hochschwanger. Eines Tages stand ein Rotkreuzwagen vor der Tür, der sie abholte. Wir wussten nicht, wo sie hingebracht wurde." Mit dem Fahrrad suchen Vater und Onkel nach der Mutter - und finden sie im 40 Kilometer entfernten Hermeskeil.
Am 5. Dezember müssen die Ayler ihr Dorf verlassen. Der Vater von Anneliese Kaypinger, ein Schmied, baut auf den einfachen Pferdewagen der Familie ein Eisengerüst, das er mit Teppichen bedeckt.
In den Wagen kommen zwei Matratzen, der kleine Eisenherd und etwas Verpflegung. Ein Wohnmobil der Kriegszeit. Ein Pferdegespann zieht den Wagen nach Irsch, hinter die Westwall-Bunker von Ockfen und Schoden.
"In diesem Winter war furchtbar viel Schnee", erinnert sich Anneliese Kaypinger, "wir verbrachten den Nikolausabend in einer Wirtschaft in Irsch auf Stroh." Am nächsten Tag geht die Reise weiter - ohne den Vater, der als Schmied für den Volkssturm rekrutiert worden war und in Irsch bleiben musste.
Die Pferde eines Nachbars bringen die Kinder in den Ort Höfchen bei Hermeskeil. Ein Schulhaus soll die nächsten vier Wochen ihr Zuhause sein. In einem Klassenzimmer richten sich die Geschwister ein. "Wir vier haben da wochenlang gehaust - mit Bomben und allem Möglichen", erinnert sich Kaypinger.
Eines Mittags kommen amerikanische Flugzeuge. Sie haben den Wagen der Familie vor der Schule entdeckt und halten ihn für ein Geschütz. Fenster bersten, als der Beschuss in das Notdomizil der Kinder dringt. "Wir standen da alle zusammengekauert und mit dem Rücken zur Wand, als sie mit den Bordwaffen in die Schule schossen", erzählt Kaypinger.
Die Aylerin hatte immer Angst davor, in den Bunker zu gehen. "Ich hatte gehört, dass Menschen dort erstickt waren. Deshalb habe ich bei den Fliegerangriffen immer getrödelt." Sie steht bei der kleinen Kapelle neben dem Schulgebäude, als die Bomber wiederkommen. Diesmal nehmen sie den Reinsfelder Bahnhof in Angriff.
"Überall sah man schwarze Pünktchen im Schnee - das waren Menschen, die aus dem Zug gesprungen waren", erinnert sich Kaypinger. Die Alliierten zerstören den Bahnhof komplett. Nach dem Angriff steht nur noch eine Wand. "Ausgerechnet die, an der das Bild Adolf Hitlers hing. Es war blanker Hohn", sagt Kaypinger bitter.
An Weihnachten stößt die Mutter mit dem Neugeborenen zu den Geschwistern. Das kleine Kind verbringt seine ersten Lebenstage im Dunkeln. "Es gab ständig Alarm", erinnert sich Kaypinger, "meine große Schwester lief morgens mit dem Kind in den Bunker und kam erst abends wieder heraus.."
Weil das Gebiet um den Reinsfelder Bahnhof immer gefährlicher wird, zieht die Familie weiter nach Gusenburg. Dort kommt sie in einem Gasthaus unter.
Doch die Front rückt immer näher. Eines Nachts liefert sich ein amerikanischer Stoßtrupp auf der Dorfstraße ein Feuergefecht mit deutschen Soldaten. "Ein junger Soldat rief die ganze Zeit panisch nach seiner Mutter. Auf einmal ging ein Gewehr. Dann war Ruhe", erinnert sich Kaypinger an die schrecklichen Minuten.
Ende Februar, Anfang März 1945 kommen die Amerikaner von allen Seiten, drängen die Deutschen immer weiter zurück. Die Front war vorübergezogen. Der Krieg ist für Anneliese Kaypinger zu Ende.
"Als wir zurückkamen, das war ein Erlebnis. Das Erste, was ich sah, waren Berge an der Saar, schneeweiß von Blumen, bei herrlichem Frühlingswetter." Das Dorf Ayl hat den Krieg relativ gut überstanden. Nur ein Haus ist komplett zerstört.
Die Narben, die der Krieg bei den Menschen hinterlässt, werden bleiben. Anneliese Kaypinger: "Meine kleine Schwester, die in Hermeskeil zur Welt kam, ist heute 68 Jahre alt. Sie kann sich noch immer nichts über den Kopf anziehen, und nicht in Aufzüge steigen. Weil sie als Baby von morgens bis abends in der Enge eines Bunkers war."

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