Der Ernst des Lebens

WASSERLIESCH. (red) Als Jugendlicher und junger Mann erlebte Hermann Heß aus Wasserliesch die Wirtschaftswunder-Jahre. Hier sein Bericht:

Für mich, Jahrgang 1940, beginnt das Wirtschaftswunder im Herbst 1946 mit der Einschulung. In einem sehr großen Zimmer mit kleinen Bänken schaute mir ein unheimlicher Mann mit strenger Miene lang ins Gesicht. Dann murmelt er: "Gediegener Bursche!" Ich glaube, diese Meinung hat er später revidiert. Auf dem Nachhauseweg sagte meine Mutter, jetzt beginne der Ernst des Lebens. Meine Großmutter pflegte immer zu sagen: Die Zeit vergeht, das Licht verbrennt, aus Kindern werden Leute. Sie hatte Recht. Kurz nach der Einschulung brachte uns eine Ordensschwester den rechten Glauben bei und bereitete uns auf die Erste Heilige Kommunion vor. Beim Einkaufen des Kommunionsanzuges, der Mütze mit lackiertem Schirm (die ich nie getragen habe) und einer viel zu langen Kerze, sagte meine Mutter: Jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Das zeigte sich in Gestalt von alten, überforderten Lehrern, die uns mit dem Rohrstock prügelten, mit einem Schlüsselbund bewarfen und gelegentlich mit der Todesstrafe drohten: "Ihr landet alle noch am Galgen." Kleine Kostprobe. Es musste ein Gedicht auswendig gelernt und vorgetragen werden: "Nis Randers" von Otto Ernst. Ein Schüler deklamiert hastig: "Krachen und Heulen und berstende Nacht, Dunkel und Flammen in rasender Jagd - ein Schrei durch die Brandung! Und brennt der Himmel, so sieht man's gut: Ein Frack auf der Sandbank…" Der Lehrer unterbricht mit Donnerstimme: "Du Idiooot, ein Wrrrrrack!" Gleichzeitig wirft er den Schlüsselbund, trifft aber nicht. Aber, siehe meine Großmutter, die Zeit verging... Am Radio erlebte ich das Wunder von Bern, welches für mich darin bestand, dass ich mich über das Geschrei der Erwachsenen wunderte. Als Sohn eines gefallenen Helden (mein Vater starb mit 24 Jahren in Russland), hatte man keine allzu große Auswahl, also ging ich bei einem Trierer Malermeister und Künstler in die Lehre. Meine Mutter sagte, jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Und der Ernst des Lebens hat jetzt richtig zugeschlagen. Motto: "Lehrjahre sind keine Herrenjahre". Worte wie in Stein gemeißelt. Zur Zeit Moses gab es wohl noch keine Lehrlinge, sonst hätten wir heute elf Gebote. Laut Tarifvertrag hatten wir die 48(!)-Stundenwoche, arbeiten mussten wir aber meistens 58 Stunden, weil wir nach Meinung unseres Meisters Faulpelze waren, die immer etwas nachzuholen hatten. Urlaub? Was ist das denn, eine neue Krankheit? Als ich die Meisterprüfung und mich selbstständig machte, kam meine Mutter auf mich zu und sagte - na Sie wissen schon. Ich werde den Verdacht nicht los, dass der Ernst des Lebens schon mit der Geburt beginnt. Das Wunder bestand für mich darin, dass ich diese Zeit ohne nennenswerte Blessuren an Leib und Seele überstanden habe.

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