Der Zufluchtsort

Elena Marxen aus Konz-Krettnach hat im Kurzgeschichtenwettebewerb des Rotarier-Clubs Saarburg den zweiten Platz belegt. Die 16-Jährige besucht die zehnte Klasse des Gymnasiums Konz. Der TV präsentiert ihre Geschichte.

Als ich die Bibliothek betrete, fällt mein Blick sofort auf das Mädchen, das am hinteren Ende des Raumes auf dem roten Sofa gegenüber der großen Fensterfront sitzt. Unter normalen Umständen hätte ich sie wahrscheinlich übersehen, sie war nicht klein, doch ihre zierliche Figur und die schlanken Finger, die das Buch hielten, ließen sie jünger aussehen, als sie in Wirklichkeit war. Seit ich denken konnte, gehörte sie zu der Bibliothek und ihrer Geschichte. Und das, seit ich zum ersten Mal diesen Raum betreten und seine undurchdringliche Stille gespürt hatte.
Ich durchquere den Raum, nehme mir einen Roman aus den langen Bücherregalen, deren Duft nach Kiefernholz den Raum erfüllt, und setze mich ihr gegenüber auf einen der Stühle. Das bequeme Sofa bietet eigentlich genug Platz für zwei Personen, doch niemand setzt sich zu ihr. Ich habe sie noch nie an einem anderen Platz gesehen als dort, wo das Licht gebrochen und gespiegelt wird, wenn die Sonne sich ihren Weg durch die Wolkendecke bahnt und jeden Winkel des Raumes mit Sonnenlicht durchflutet. Diesen Platz, ja, diesen Platz liebt das Mädchen. In jeder Pause sitzt sie dort, das rechte Bein über das Linke geschlagen, den Kopf in die rechte Hand gestützt. In der linken Hand hält sie das Buch, die vergilbten Seiten, so unendlich sie an Fantasie und Reichtum sind, erzählen ihre eigene Geschichte. Sanft streichen ihre Finger über den ledergebundenen Einschlag, ihre Augen fliegen über die Zeilen hinweg, saugen jedes Wort in sich auf und speichern es fest in ihrem Kopf und in ihrem Herzen ab.
Einige Haarsträhnen haben sich aus ihrer Frisur gelöst und fallen ihr wie leichte Wellen ins Gesicht, lassen Schatten auf ihren Wangen tanzen und flimmern, wehen im Takt ihrer Träume. Das Mädchen streicht sie nicht weg. Immer wenn die grauen Wolken des alltäglichen Staubes in ihrem Kopf ihre Kreise ziehen, wenn sie das Gefühl hat, dass alles unter ihren Händen zu Asche zerfällt, dann flüchtet sie in eine andere Welt. Öffnet eine Tür, zu der nur sie den Schlüssel besitzt. Begibt sich auf eine Reise durch Raum und Zeit.
Dann gibt es auf einmal keine Grenzen mehr, keine Mauern. Dann baut sie Schlösser, läuft über den Regenbogen, reitet den Wind. Kann fliegen. Ist frei. Und auf einmal ist das Mädchen jemand anderes. Manchmal sehe ich aus den Augenwinkeln, wie das Mädchen ihren Blick aus dem Fenster gleiten lässt, über die saftigen Wiesen, über die kargen Böden hinweg, über schneebedeckte Berge und Täler, in denen Flüsse wie blaue Diamanten glitzern und Kristalle im Mondlicht funkeln. Dann weiß ich, dass sie jetzt an einem anderen Ort ist, einem Ort, der nur in ihrer Welt existiert, in der Welt der Geschichten, dort, wo der Himmel das Meer berührt, wo der Horizont nicht das Ende der Welt, sondern deren Anfang bedeutet. An einem Ort, wo Fantasie geboren und Träume erlaubt sind. Das Geräusch der Schulklingel verkündet das Ende der Pause. Doch hier, inmitten des Raumes mit all seinen Träumern, verliert das schrille Geräusch seinen Schrecken. Ist das nicht das Klingeln der Eisenbahn, die die Fahrt in ein fernes Land verkündet oder das Läuten der Schiffsglocke, dort, auf dem weiten Ozean? Ein feiner Schmerz überzieht das Gesicht des Mädchens, als sie sich aus ihren Träumen verabschiedet, Lebewohl sagt, doch insgeheim weiß ich, dass der Geschmack von Abenteuern auf ihren Lippen sie den ganzen Tag über begleiten und nähren wird, Stunde um Stunde, bis zur nächsten Pause. Als das Mädchen das Buch zuklappt und sich aufrichtet, begegnen sich unsere Blicke über die Distanz des Raumes hinweg. Das Mädchen, dort, auf dem roten Sofa, dessen durchdringender Blick sich jetzt im spiegelnden Glas in meinem zu verhaken scheint, bin ich.

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