Ein bisschen Wehmut ist dabei

OBERBILLIG. Seit 1920 war die Gaststätte "Zum Bahnhof" ein Mittelpunkt im Ortsleben. Vergangene Woche wurde er geschlossen. Damit geht in Oberbillig auch eine Ära zu Ende, und für die ehemalige Besitzerin Anneliese Jakobs ein Lebensabschnitt.

Ein bisschen Wehmut schwingt mit unter den Gästen, die schon zur Nachmittagszeit das schlichte Lokal bevölkern. Zum letzten Mal trinken sie ihr Bier an den leicht ramponierten Tischen und auf den abgenutzten, graubraunen Hockern der Gaststätte "Zum Bahnhof". "Wir haben einen Treffpunkt verloren", sagt ein Gast. Ein anderer: "Jetzt ist die Gemütlichkeit weg." Am Abend dann kommen die Menschen zuhauf. "Mehr Personen hätten nicht in dem Raum gepasst", sagt Annelie Jakobs später über den Abend. 60 bis 70 Oberbilliger haben Abschied genommen von einem Gasthaus, das eine Institution gewesen ist, ein Stück Oberbillig. "Trauer und Wehmut" hätten sich verbreitet, erzählt die ehemalige Wirtin, und man spürt - mit diesen Empfindungen hat auch sie das Lokal verlassen. "Das war mein Heim." Ein Stück Oberbilliger Geschichte

"Zum Bahnhof" - diese Gaststätte in dem zwar schlichten, aber nicht primitiven Gebäude von 1920 ist ein Stück Oberbilliger Geschichte. Sie erinnert an die Zeit, in der die Eisenbahn das Tor zur Welt war - das einzige, denn Flugzeug- und Autoreisen lagen für den Durchschnittsbürger damals außerhalb jeder realistischen Vorstellung. In unmittelbarer Nähe stand das kleine Bahnhofsgebäude, wahrscheinlich aus den 1880er-Jahren, mit Fahrkartenschalter, Gepäckabfertigung und einem Abstellgleis. Wer zum Bahnhof ging, besuchte wohl auch die Gastwirtschaft, trank den damals üblichen Doppelkorn, unterhielt sich mit Freunden oder Auswärtigen, die auf den Zug warteten. In diesem Haus, das seit 1937 ihrer Familie gehörte, wurde Anneliese Jakobs im Jahr 1938 geboren. Sie gehört in eine "Gaststätten-Dynastie". Über 100 Jahre schon hatten ihre Vorfahren als Wirtsleute gearbeitet. Herkunft verpflichtet. Geschlagene 48 Jahre stand sie hinter dem Tresen, übernahm 1975 die Gaststätte vom Vater und machte daraus im Ort eine Institution. Im großen Saal, für den es in Oberbillig derzeit keinen angemessenen Ersatz gibt, fanden Familienfeste statt - Tauffeiern, Hochzeiten. Die Einheimischen trafen sich mit Freunden aus der Nachbarschaft zum Tanzen - nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wirtschaft eine Hochburg für Bälle. Die Vereine hatten ihre Sitzungen, und jeden Tag schob ein Kegelklub die Kugeln auf die Bahn. Die Eisenbahnarbeiter kamen herein, und die Fastnachtstage, so erzählt Anneliese Jakobs, waren "immer interessant". Jahrzehnte stand Anneliese Jakobs hinter dem Tresen. Aufgemacht hat sie schon um 9 Uhr. Da kamen die Leute von der Sparkasse, die direkt neben der Gaststätte ihr Domizil hatte. Und Feierabend? "Nie vor 1 Uhr nachts", sagt sie, "immer auf den Beinen, immer im Laufschritt." Schließlich, mit 62 Jahren, verkaufte Anneliese Jakobs Haus und Gaststätte. Seit 2001 hat Regina Linn die Wirtschaft als Pächterin betrieben. Jetzt hat sich der Besitzer zum Umbau entschlossen. Aus dem Gaststätten-Gebäude wird ein modernes Appartementhaus. "Nicht zu ändern", sagt Anneliese Jakobs. Aber obwohl keine Auflage vom Denkmalschutz vorliegt - die Fassade bleibt erhalten und mit ihr ein kleines Stück Oberbilliger Ortsbild. Auch für die Gäste ist gesorgt. Am Freitag hat Regina Linn unten im Ort eine neue Wirtschaft eröffnet. "Zur Fähre" heißt sie, weil sie direkt an der Fähre liegt, die Oberbillig mit Luxemburg verbindet. "Der König ist tot, es lebe der König", sagte man zu Fürstenzeiten.

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