Ein halbes Fach in der Gefrieranlage

Waltraud Steffens (55), Lektorin aus Tawern, erinnert sich in ihrem Beitrag für unsere Serie an die vielen technischen Neuerungen, die die Nachkriegszeit den Menschen bescherte.

Ich kann mich noch sehr gut an die 50er-Jahre erinnern, denn ich, Jahrgang 1950, bin in dieser Zeit in einem kleinen Hunsrückdorf aufgewachsen. So vieles gab es noch nicht, was heute selbstverständlich ist. Im heutigen Computer-Zeitalter kann man sich kaum vorstellen, dass es damals noch nicht einmal in jedem Haus ein Radio gab, geschweige denn einen Fernseher. Diese Geräte waren zwar schon erfunden, aber wegen der horrenden Anschaffungspreise nur für die allerwenigsten Menschen verfügbar. Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als das Fernsehen auch in unserem kleinen Dorf Einzug hielt. Der erste Apparat, damals noch in Schwarz-Weiß, stand in unserem kleinen Dorf-Gasthaus, das sich davon eine Steigerung des Umsatzes versprach, was auch so eintraf, denn jeder war von dem neuen Gerät fasziniert und wollte möglichst oft fernsehen. Und für uns Kinder gab es am Nachmittag eine eigene Kinderstunde. Wir sahen Lassie, Fury und die Kinder von Bullerbü und waren hin und weg. Das war ja noch schöner als Lesen! Auch andere Dinge, über die man heute überhaupt nicht mehr nachdenkt, gab es damals noch nicht, zum Beispiel einen Kühlschrank. Man musste alles Verderbliche im kühlen Keller oder im kalten Wasserbad aufheben. Das war vor allem im Sommer sehr aufwändig. Man konnte auch nicht - so wie heute - einmal in der Woche einen Großeinkauf machen, sondern musste jeden Tag das täglich Benötigte frisch besorgen, was aber nicht viel war, denn man bezog die meisten Lebensmittel aus dem eigenen Garten. Als es dann die ersten Kühlschränke gab, die damals noch immens teuer waren, wünschte sich jede Hausfrau solch ein Gerät und sparte fleißig, um es sich irgendwann leisten zu können. An noch eine Errungenschaft kann ich mich sehr gut erinnern, und zwar wurde Ende der 50er-Jahre in unserem Dorf im Gemeindehaus eine ganz moderne Gefrieranlage installiert. Sie bestand aus vielen abschließbaren Fächern. So etwas kennt man heute, da jeder Haushalt über Kühl- und Gefriergeräte verfügt, natürlich nicht mehr, aber zu damaliger Zeit war das etwas ganz Besonderes und unglaublich Praktisches, konnte man doch jetzt Fleisch, Gemüse, Obst - überhaupt alles Mögliche einfrieren und somit jederzeit darüber verfügen. Meine Eltern hatten nicht so viel Geld, um sich ein ganzes Fach in dieser Anlage leisten zu können, denn ein solches Fach kostete Geld, aber sie mieteten sich eins mit den Großeltern zusammen. Von nun an wurde fast täglich eins von uns Kindern zur Gefrieranlage geschickt. "Hol dieses, hol jenes ...", hieß es dann, aber das Gemeindehaus stand mitten im Dorf, und wir wohnten fast am Anfang des Dorfes, hatten also ein ganz schönes Stück zu laufen, und ein Fahrrad besaßen wir damals auch noch nicht. Das wurde erst sehr viel später für jedermann erschwinglich. Die Gefrieranlage war ein großer Segen für die Dorfbewohner, obwohl ich mich immer mit äußerster Vorsicht diesem Raum näherte, denn die großen Stromgeneratoren machten so unheimliche Geräusche, und außerdem war außen an der Anlage ein großes Warnschild angebracht: Vorsicht, Lebensgefahr. Ich war immer froh, wenn ich der Anlage unbeschadet entkommen war. Ein Auto besaßen wir damals auch nicht, das war etwas total Unerschwingliches für die einfachen Leute. Aber so konnten wir wenigstens noch unbeschadet auf der Straße Rollschuh fahren, mit unseren Klickern spielen, Hüpfhäuschen aufmalen oder Dilldopp spielen, denn es gab noch keinen Autoverkehr so wie heute. Dilldopp-Spielen war in meiner Kindheit sehr beliebt. Zur Erklärung: Ein Dilldopp ist ein Kegel, der mit Peitschenhieben angetrieben wurde und möglichst lange auf dem Boden kreiseln sollte, ohne umzufallen. Und wenn irgendwann mal tatsächlich ein Auto kam, was aber äußerst selten passierte, dann sprangen wir halt zur Seite. So machten sich nach und nach alle heute für uns selbstverständlichen Dinge und Einrichtungen in unserem Leben breit, alle natürlich ein Segen für die Menschheit - oder doch nicht?

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