Erinnerung an eine gefährliche Zeit

WILTINGEN. Der Schrecken vergangener Jahrzehnte – längst vergessen? Menschen unterschiedlicher Generationen möchten an die Kriegszeit und ihr Gefahrenpotenzial erinnern. Erwin Frank stellte im Bürgerhaus Wiltingen sein Buch "Die letzte Reserve" vor.

Der sehr gut besuchte Volkshochschul-Abend im Rahmen der "Vorträge zur Wiltinger Geschichte" stand ganz im Zeichen der 30er- und 40er-Jahre. "Nazihochburg Wiltingen - warum?" fragte sich Ortschronist Thomas Müller. Er ging auf die soziale und familiäre Struktur des Ortes ein. Einflussreich seien auch einzelne, offenbar rhetorisch sehr begabte Aktivisten gewesen. Rasanter Aufstieg der SA-Kapelle

Ausführlich schilderte Müller die Entwicklung Wiltingens in der NS-Zeit, von der Gleichschaltung des Gemeinderats über den rasanten Aufstieg der "SA-Kapelle" bis zu den zahlreichen ähnlichlautenden "Persilscheinen" nach Kriegsende. "Die NSDAP hatte schon sehr früh Wahlanteile bis zu 75 Prozent", stellte er fest. "Die SA war für ihre Brutalität berüchtigt. Es ist mir ein Anliegen, dieses tabuisierte Thema unter die Leute zu bringen." Es habe zahlreiche Repressalien etwa gegen die Kirche und ihre Vertreter, aber auch gegen missliebige Lehrer gegeben. Beim Erstellen seiner Chronik habe Müller insgesamt sehr positive Erfahrungen gemacht, "viele Zeitzeugen haben sich gemeldet, Fotoalben wurden mir geöffnet". Ein weiteres Projekt des Ortschronisten: "Stolpersteine" sollen ab dem kommenden Februar an die jüdische Familie Meyer erinnern, deren Mitglieder ermordet wurden oder emigrierten. Der zweite Teil des Abends gehörte Erwin Frank, der sein neues Buch "Die letzte Reserve - Eine heimatkundliche Dokumentation der 1.,2./Heeres-Festungs-Artillerieabteilung 1309 in Wiltingen, Irsch und Ockfen sowie der Zivilbevölkerung auf dem Wiltinger Berg" vorstellte. "Für unsere Generation war das das zentrale Erlebnis mit sehr hohem Gefahrenpotenzial", betonte Frank. "Das schreibt sich im Gehirn fest und hinterlässt seine Spuren." Er wolle über die letzten Kriegswochen und die Opfer auf beiden Seiten berichten, "damit diese schlimme Zeit nicht vergessen wird". In mühsamer Recherche habe er die Namen von Zeitzeugen ausfindig gemacht und mit einigen von ihnen sowie mit Angehörigen gesprochen. "Ein damaliger Unteroffizier ist schon 86, aber es sprudelte nur so aus ihm heraus", berichtete Frank lachend. Im Buch schildert er detailliert die Stellungen der Artillerie sowie die Erlebnisse der Soldaten im Winter und Frühjahr vor Kriegsende. Im zweiten Teil geht er auf das Schicksal der Wiltinger Bevölkerung ein, die vor den vorrückenden Amerikanern auf den Wiltinger Berg geflüchtet war. Berichte ohne Pathos

Wolfgang Fleischer, Militärhistoriker aus Dresden, stand ihm bei der Schilderung der Fakten zur Seite. Anhand von Karten zeigte Frank seinem Publikum die Geschützstellungen und Bunker. Zwei von ihnen, darunter ein "Artilleriebeobachter", sollen dem Autor zufolge bald wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; Sven Zimmer und Marc Steinfeld befreiten sie von dem eingeschütteten Beton. "Man will weiterer Geschichtsvernichtung entgegentreten", betonte Frank. 2005 habe es ein entsprechendes länderübergreifendes Symposium an der Universität Trier gegeben. Zahlreiche Anekdoten und Erlebnisse hat der Autor in sein Buch eingeflochten: Etwa die russischen Beutegeschütze, den ausgiebigen Weingenuss in den Stellungen, auch die grausamen Flammenwerfer, die Entbehrungen der Bevölkerung oder eine Soldatenbeichte im Schnee unterm Apfelbaum. Ohne Pathos berichtet Erwin Frank über die letzten Kriegswochen; seinen Vortrag schloss er mit einem Zitat: "Krieg dem Krieg!"

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