Jüdische Geschichte Warum das Erinnern an den Holocaust wichtig bleibt

Konz · Zum 83. Jahrestag der Reichspogromnacht hat der TV mit Willi Körtels aus Konz gesprochen. Der Experte für die regionale jüdische Geschichte erklärt, warum das Gedenken an die Opfer und das Erinnern an die Täter wichtig bleibt.

 Willli Körtels zeigt die Neuauflage seines Buchs „Materialien zur Geschichte der Juden in Konz“. Im Hintergrund sind Teile der Ausstellung über die Deportation von 580 Menschen ins Ghetto Litzmannstadt in der Stadtbibliothek Konz zu sehen.

Willli Körtels zeigt die Neuauflage seines Buchs „Materialien zur Geschichte der Juden in Konz“. Im Hintergrund sind Teile der Ausstellung über die Deportation von 580 Menschen ins Ghetto Litzmannstadt in der Stadtbibliothek Konz zu sehen.

Foto: TV/Christian Kremer

Ein Gespräch mit Willi Körtels ist intensiv. Der ehemalige Religionslehrer arbeitet seit 1987 als Heimatforscher die Geschichte der Juden in der Region Trier auf. Er hat mit Nachfahren von jüdischen Familien aus der ganzen Welt gesprochen. Einige hat er besucht, andere in Konz empfangen. Körtels hat Archive durchforstet, etliche Aufsätze und Bücher geschrieben und Vorträge gehalten. Sein Thema ist die düsterste Zeit der deutschen Geschichte und deren mangelhafte regionale Aufarbeitung: Er beschäftigt sich mit der massenhaften Ermordung von unschuldigen Menschen durch die Nationalsozialisten.

Ein Thema, das wegen seiner emotionalen Wucht und der menschlichen Abgründe manchen Augenblick im Leben des pensionierten Lehrers getrübt hat. Doch er sieht sich auf einer Mission. Körtels appelliert an alle Menschen, nicht zu vergessen, was die deutschen Nationalsozialisten den Juden angetan haben. Denn die Geschichte soll sich nicht wiederholen. Die Internetseite, auf der Körtels seine Erkenntnisse veröffentlicht, ist dementsprechend zu finden unter

www.mahnmal-trier.de.

Rund sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens haben die NS-Täter zwischen 1933 und 1945 ermordet. Die meisten von ihnen wurden in Konzentrationslagern getötet. Hunderte stammten aus der Region Trier, etwa 127 aus der Verbandsgemeinde Konz (siehe Info). Die Lebensgeschichten von vielen dieser Menschen hat Körtels erforscht.

Ein Fokus liegt auf seiner Heimatstadt Konz, wo er im Stadtteil Oberemmel lebt und wo er bis zu seiner Pension am Gymnasium gearbeitet hat. Als Lehrer ging Körtels auch 1987 zusammen mit Schülern und einem weiteren Lehrer sein erstes Projekt an, mit dem er auf die Opfer und Täter in der Region hinweisen wollte.

Inzwischen hat der Heimatforscher die Namen von 62 Juden herausgefunden, die 1933 in Konz gelebt haben. Das Besondere an der Stadt: Die jüdische Gemeinde ist in den Jahrzehnten vor der Machtergreifung der Nazis gewachsen, während andere, teils ländlichere Gemeinden, stagnierten oder gar schrumpften. Der Grund: Konz entwickelte sich zu einem Marktzentrum. Die Stadt profitierte von ihrer Lage am Eisenbahnnetz zwischen Trier, Metz und Saarbrücken. Das brachte das Wachstum.

Doch dieses endete nach 1933 jäh. Von den identifizierten Juden in Konz töteten die Nazis laut Körtels die Hälfte: 31. Diese Zahl und weitere Informationen zu Einzelschicksalen hat er 2014 in dem Buch „Materialien zur Geschichte der Juden in Konz“ veröffentlicht. Das Buch hat er ergänzt und 2020 in zweiter Auflage publiziert.

Körtels erzählt darin die Geschichten einzelner jüdischer Familien. Neu in der zweiten Auflage ist laut dem Autor beispielsweise das Kapitel über Familie Kohlhagen aus Konz. Werner Kohlhagen, Sohn von Ida und Sally Kohlhagen, wollte demnach eigentlich 1935 sein Abitur am Hindenburg-Gymnasium in Trier machen. Dann las der Schüler Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“. Die Schule beendete er danach nicht mehr, weil er in Deutschland keine Zukunft mehr gesehen habe, sagt Körtels. „Im September 1934 emigrierte er in die USA“, heißt es in einer Fußnote, die sich auf Angaben des Amts für Wiedergutmachung in Saarburg bezieht.

In den USA lebte Kohlhagen laut Körtels’ Recherchen von Gelegenheitsjobs als Kellner, Verkäufer oder Übersetzer, statt – wie geplant – Medizin in Deutschland zu studieren. Obwohl die Familie anfänglich gegen die Flucht ihres Sohnes war, folgten die Eltern Ida und Sally sowie der zweite Sohn Kurt 1938 in die USA. Sie waren gezwungen, ihr Geschäft und Haus zu verkaufen, weil die sogenannte Arisierung, der staatlich organisierte Raub an Juden, sie besitzlos gemacht hätte. Nach Kriegsende kehrte Werner Kohlhagen mit der US-Armee, für die er als Übersetzer an Verhandlungen mit der Wehrmacht mitgewirkt hat, zurück nach Konz. Ein Buch-Abschnitt darüber zeigt, welch gemischte Gefühle ihn übermannten, als er auf sein zerstörtes Elternhaus stieß und alte Freunde traf.

Am 9. November 2015 besuchten seine Nachfahren Konz. Vor Ort waren sein Sohn Steven S. Kohlhagen, dessen Frau Gale sowie deren Söhne Tron und Kristoff. Sie wurden feierlich empfangen und durften sich ins Goldene Buch der Stadt eintragen. Anlässlich ihres Besuchs wurden erstmalig alle Namen der getöteten Konzer Juden verlesen. „Ich weiß nicht, was mein Vater und mein Großvater von der heutigen Veranstaltung halten würden“, sagte Steven Kohlhagen damals. „Ich weiß nur: Für mich ist es sehr bewegend gewesen, eine Art von Wiederanknüpfung.“

Für Körtels ist das Erinnern an die NS-Täter ähnlich wichtig wie das an die Opfer. Denn Täter gab es überall, auch in Konz. So kritisiert Körtels beispielsweise in seinem Kapitel über die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 die Geschichtsschreibung Michael Scherers in der Konzer Chronik von 1970. In der Chronik werden die Konzer November-Pogrome geschildert. Die Synagoge in Konz wurde demnach einen Tag nach der Pogromnacht am 10. November verwüstet. Scherer erzählt in „Das Judenmädchen Erna“ unter anderem davon, wie die Nationalsozialisten die Thorarollen aus der Synagoge geschändet hätten. Ein Judenmädchen namens Erna habe sie aus dem Konzer Bach gerettet, der damals freigelegt an der damaligen Mühlenstraße, heute Lindenstraße, vorbeifloss. Körtels hält die Darstellung für verharmlosend. Es werde verschwiegen, dass die Täter auch aus Konz stammten. Immerhin seien 440 der damals rund 6000 Einwohner Mitglieder in der NSDAP gewesen.

Dieser Hinweis auf die Täter ist Körtels wichtig, weil Antisemitismus immer noch tief verwurzelt ist in der deutschen Gesellschaft. Er zitiert Studien, die davon ausgehen, dass 20 Prozent der Deutschen antisemitisches Gedankengut pflegen. Bei rund 18 000 Konzern wären das rein rechnerisch 3600 Menschen. In Trier mit mehr als 100 000 Einwohnern wären es mehr als 20 000 potenzielle Antisemiten, rechnet Körtels vor. Der Antisemitismus äußere sich meist nicht mehr in der von der katholischen Kirche abgelehnten christlichen Vorstellung vom „Juden als Gottesmörder“, sondern über Sozialneid, in Verschwörungstheorien und konkret in Israel-Feindlichkeit. Israel werde beispielsweise für Militäraktionen härter kritisiert als Länder wie Brasilien oder Russland, die ähnlich hart agierten wie Israel. (Raketen-)Angriffe auf den jüdischen Staat würden oft ausgeblendet bei der Kritik an Militäraktionen.

Körtels ist nach fast vier Jahrzehnten des Mahnens müde. Das 2020 veröffentlichte Buch könnte sein letztes Werk sein. Das Thema belaste ihn inzwischen zu sehr, sagt er. „Das zehrt an einem.“ Ihm sei die Kraft ausgegangen bei seiner Mission, etwas gegen die unaufgearbeitete Vergangenheit zu tun.

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