Leben in Angst und Ungewissheit

Hinzert-Pölert · In der Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert hat die Luxemburgerin Anny Brück von drei schweren Jahren ihres Lebens berichtet. Die Tochter eines 1942 von den Nazis erschossenen Lehrers wurde als Neunjährige mit ihrer Familie ins heutige Polen deportiert.

 Beate Welter (links), Leiterin der Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert, mit Anny Brück. Das Foto unter der Jahreszahl 1942 zeigt deren in Hinzert erschossenen Vater Alfred Brück. TV-Foto: Ursula Schmieder

Beate Welter (links), Leiterin der Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert, mit Anny Brück. Das Foto unter der Jahreszahl 1942 zeigt deren in Hinzert erschossenen Vater Alfred Brück. TV-Foto: Ursula Schmieder

Foto: Ursula Schmieder (urs) ("TV-Upload Schmieder"

Hinzert-Pölert. Die Lager, in die Anny Brück (82) mit zwei Geschwistern und ihrer Mutter deportiert wurden, waren keine Vernichtungslager. Zumindest für internierte Frauen und Kinder gab es dort wohl auch halbwegs ausreichend zu essen. Dennoch waren Angst und Ungewissheit drei Jahre ständige Begleiter in den fünf Lagern, in denen mehrere luxemburgische Familien in einem Raum lebten. Mehrmals mussten sie kurzfristig ihre Habseligkeiten packen - ohne ihr Ziel zu kennen. Und Anny Brück, anfangs neun Jahre alt, hatte permanent Angst, ihre Mutter nicht mehr wiederzusehen.
Noch heute sieht sie sich alle paar Stunden heimlich zu deren Arbeitsplatz, der Küche des riesigen ehemaligen Klosters Leubus, schleichen, berichtete sie in der Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert. Viele der Zwangsarbeiter, die dort für die Rüstungsindustrie schufteten, kamen ums Leben, was Anny möglicherweise anspornte, immer wieder nach ihrer Mutter zu sehen.
Weder sie noch ihre älteren Geschwister, die in Fabriken arbeiten mussten, wollte sie verlieren - so kurz nach dem Tod ihres Vaters. Alfred Brück, Lehrer in Wiltz, war einer der 20 Männer, die als Vergeltung für den Generalstreik in Luxemburg erschossen wurden (siehe Extra). Sein Vergehen: Am Streiktag unterrichtete er nicht in der Schule, sondern auf dem Schulhof. Dort erfuhr Tochter Anny am 3. September 1942 von seinem Tod. Sein Name stand mit weiteren auf einem Plakat der Nationalsozialisten. Am 30. September morgens um 4.30 Uhr standen SS-Leute vor ihrer Haustür - 24 Stunden später war die Familie in Leubus. Anfangs durften die Kinder noch zur Schule gehen. In anderen Lagern blieben sie sich meist selbst überlassen. Ältere der Zwangsgemeinschaft hätten sich um die Kinder gekümmert, während ihre Eltern arbeiteten, erzählt Brück. Manchmal hätten sie sogar das Lager verlassen und spazieren gehen können.
Aus Briefen oder telefonisch - was möglich, aber schwierig gewesen sei - erfuhren sie, dass ihr Haus besetzt sei und andere Leute darin wohnten. Ab und an legten sie ihren Briefen in die Heimat Fotos bei, auf denen sie immer gelacht hätten. Niemand sollte ihnen ihren Kummer oder ihr Heimweh ansehen. Dank eines russischen Offiziers kamen sie 1945 wieder nach Hause, wo Brück heute Vorsitzende der Amicale des Anciens de Hinzert, der Organisation ehemaliger Luxemburgischer Häftlinge, ist.
Zuhörer Michael Ziegler (32) aus Waldweiler ist überrascht. Kinder hätten das Lagerleben offensichtlich aus einer anderen Perspektive erlebt als Erwachsene. Für Martin Schneider-Jost (62) aus der Nähe von Idar-Oberstein ist dennoch die ständige Angst unverkennbar: "Die Gefahr, dass die Mutter abends nicht da ist, war ja permanent gegeben." Schließlich seien die Menschen der Willkür der wachhabenden SS-Leute ausgeliefert gewesen.
Am Freitag, 18. September, um 18.30 Uhr berichten die Zeitzeugen Anne Boeh nisch und Ingelore Prochnow in der Gedenkstätte. Die Töchter deutscher Frauen und polnischer Zwangsarbeiter, die als sogenannte "Eindeutschungspolen" in SS-Sonderlagern interniert waren, suchten jahrelang nach ihren Eltern. urs
Extra

Der Generalstreik im seit 1940 von Deutschland besetzten Luxemburg war die Reaktion auf die von Gauleiter Gustav Simon am 30. August 1942 verkündete Wehpflicht für 18- bis 22-Jährige. Werktätige wie Beamte legten ihre Arbeit nieder, woraufhin ein Standgericht unter Vorsitz von Gestapochef Fritz Hartmann binnen weniger Stunden 21 willkürlich ausgewählte Männer verhaftete und zum Tode verurteilte. 20 von ihnen wurden zwischen dem 2. und 9. September in der Nähe des SS-Sonderlagers/KZ Hinzert erschossen. Insgesamt verurteilte das Standgericht 875 Luxemburger, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Ihre Angehörigen wurden "umgesiedelt" - so der NS-Jargon für ihre Verschleppung. In Hinzert kamen nachweislich mindestens 321 Menschen - vorwiegend aus Luxemburg, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Polen - ums Leben. Tatsächlich waren es wohl weit mehr, die ermordet wurden oder an den Folgen von Lagerterror, Krankheit, Entkräftung oder Hunger starben. Ab 1940 wurden zudem von Hinzert aus Menschen in Vernichtungslager wie Buchenwald, Dachau oder Natzweiler (Frankreich) deportiert. urs

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