Nach der Walz wird der Ohrring ausgerissen

Rascheid · Großer Empfang am Ortsschild von Rascheid: Mehr als 200 Dorfbewohner und der Musikverein warten auf den weitgereisten Zimmermann Mario Ludwig. 32 seiner Kollegen bringen ihn nach Hause. Fast vier Jahre war er auf der Walz. Da hat man viel zu erzählen.

 Nach 1421 Tagen wieder zu Hause: Vater Joachim Ludwig, Schwester Jana und Mutter Sabine (rechts) schlossen ihren Mario am Ortsschild in die Arme. Rund 200 Rascheider kamen zu diesem Empfang. TV- Foto: Herbert Thormeyer

Nach 1421 Tagen wieder zu Hause: Vater Joachim Ludwig, Schwester Jana und Mutter Sabine (rechts) schlossen ihren Mario am Ortsschild in die Arme. Rund 200 Rascheider kamen zu diesem Empfang. TV- Foto: Herbert Thormeyer

Rascheid. Die Feuerwehr hat die Zufahrt nach Rascheid gesperrt. Rund 200 Dorfbewohner und der örtliche Musikverein warten auf einen besonderen Heimkehrer: Wandergeselle Mario Ludwig kommt nach 1421 Tagen von der Walz zurück. Vater Joachim, Mutter Sabine und Schwester Jana schließen ihn in die Arme.
Drei Jahre und ein Tag muss ein Wandergeselle unterwegs sein, bis er wieder zurückkehren darf. So schreibt es die Organisation, der sogenannte "Schacht", vor. Zimmermann Mario Ludwig gehört dem Schacht der Rechtschaffenen Fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen an.
"Diese Organisation ist mehr als 800 Jahre alt", erzählt er. Bis heute werden hier keine Frauen aufgenommen. Laptop und Handy seien tabu. Der Wandergeselle muss außerdem seine Prüfung bestanden haben, jünger als 30 Jahre alt sein, darf nicht verheiratet sein, keine Kinder und muss vor allem ein "lupenreines" polizeiliches Führungszeugnis haben.
"Das alles muss man vor Antritt der Reise nachweisen", erklärt Ludwig. Sinn der Walz sei der Gewinn an Berufs- und Lebenserfahrung. "Wir müssen ohne Geld losgehen und ohne heimkommen." Geld zum Leben und Reisen wird in Betrieben verdient, bei denen der Wandergeselle vorspricht. Ludwig war in ganz Mitteleuropa unterwegs, fuhr mit der Transsibirischen Eisenbahn, kam nach China, Australien und Neuseeland.
"Die Verständigung war halt manchmal schwierig", gibt er zu und erklärt: "Wenn wir in China Essen bestellt haben, war es schon besser, mal zu schauen, was die Nachbarn auf dem Teller haben." Im Wanderbuch sind alle Stationen der langen Reise vermerkt. Jeder Betrieb stellt dem Wandergesellen ein Zeugnis aus. "Man kann in kurzer Zeit viel Erfahrung sammeln mit fremden Baustilen, Arbeitstechniken, aber auch mit anderen Kulturen", freut sich Ludwig, der jetzt auch fachgerecht ein Fachwerkhaus restaurieren kann.
Mit Stolz tragen Wandergesellen auf der Walz ihre Kluft, wie die Kleidung im Fachjargon heißt. Am wichtigsten ist der Hut. "Er ist Zeichen eines freien Mannes und wird vor niemandem gelüftet, es sei denn in der Kirche oder am Mittagstisch", darauf besteht der 26-Jährige. Weitere Symbole sind die sechs Knöpfe an der Jacke, die für sechs Tage Arbeit pro Woche stehen, acht Knöpfe an der Weste, die acht Stunden Arbeit pro Tag beschreiben und drei Knöpfe am Ärmel, die sagen, dass der Träger drei Jahre Ausbildung genossen hat.
Die letzten paar Meter legt der Geselle allein zurück. Zuvor wird er mit Liedern und etwas Klamauk im sogenannten Spinnermarsch von seinen Kollegen verabschiedet. doth
Extra

Die Wanderjahre, auch als Wanderschaft, Walz, Tippelei oder Gesellenwanderung bezeichnet, waren seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung eine der Voraussetzungen für den Gesellen, die Prüfung zum Meister zu beginnen. Der Ohrring ist, neben der Kluft, ein Erkennungsmerkmal. Hatte sich ein Geselle unehrenhaft verhalten, wurde dieser zum "Schlitzohr" gemacht: Der Ohrring wurde ihm ausgerissen.

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