Geschichte Wie eine Hermeskeilerin die Wende zufällig hautnah miterlebte

Hermeskeil/Weimar · Kurz bevor sich die innerdeutschen Grenzen öffneten, hat eine Hermeskeilerin im Oktober 1989 die ehemalige DDR als Kulturreisende besucht. Dem TV schildert sie eindrucksvolle Erlebnisse.

 Renate Meyer mit Fotos und Reiseaufzeichnungen aus der ehemaligen DDR, die sie zufällig im Oktober 1989 besuchte.

Renate Meyer mit Fotos und Reiseaufzeichnungen aus der ehemaligen DDR, die sie zufällig im Oktober 1989 besuchte.

Foto: Ursula Schmieder

Seit Wochen sind sie in den Medien wieder überall zu sehen: die Bilder von Menschenmassen an der innerdeutschen Grenze, vom „Mauerfall“ und von der Wiedervereinigung beider Republiken vor 30 Jahren. Bei Renate Meyer rufen diese Bilder Erinnerungen wach an eine Reise kurz vor der damals nicht absehbaren Wende. Die Hermeskeilerin und ihr inzwischen verstorbener Mann waren vom 3. bis 10. Oktober 1989 in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Eigentlich hätten sie beide da gar nicht hingewollt, erzählt Meyer. Das sei ja „gefühlt weiter weg gewesen als China“. Doch dann meldete sich das Paar Freunden zuliebe zu der Kulturreise der Kreisvolkshochschule Trier-Saarburg an.

Auf dem Programm standen Stadtbesichtigungen in Eisenach, Weimar, Dresden, Leipzig und Ost-Berlin. Die 30 Teilnehmer besuchten Opern mit erstklassigen Sängern, ein Ballett, ein von Kurt Masur dirigiertes Konzert im Leipziger Gewandhaus und eine Aufführung von „Einer flog über das Kuckucksnest“ im Brecht-Theater. Abgesehen vom Stück selbst begeisterte sie das Ensemble mit seiner öffentlichen Kritik an der DDR-Regierung, kundgetan auf Betttüchern, die wie Fahnen aufgehängt waren. „Wie mutig die waren“, zollt Meyer den Akteuren Respekt.

Ihre Reiseeindrücke schrieb sie damals auf. Die Aufzeichnungen hat sie aufgehoben. Viele Fotos, die ihr Mann geschossen hat, füllen ein Album, in das die Hermeskeilerin auch Programme und Eintrittskarten der Kulturveranstaltungen geklebt hat. Die Spuren großer deutscher Dichter wie Goethe und Schiller hätten sie nachhaltig beeindruckt, sagt Meyer. Es sei ihr bewusst geworden, dass in Städten wie Weimar „das Herz unserer Kultur“ schlage. Umso mehr habe sie der Anblick verwitterter, rußgeschwärzter Denkmäler und bröckelnder historischer Fassaden geschmerzt. Denn nicht alles sei damals „renoviert“ gewesen.

Deutlich spürbar waren für die Kulturreisenden aus dem Westen die gesellschaftlichen Unterschiede und die politischen Umwälzungen, die sich bereits andeuteten. Vor den Geschäften hätten die Menschen Schlange gestanden, ebenso vor Restaurants, erinnert sich Meyer: „Während wir dort gegessen haben, durften die Einheimischen nicht rein. Obwohl die Gaststätten fast leer waren. Da hatte ich richtige Schuldgefühle.“ Sie habe Kaffee und Seidenstrümpfe dabei gehabt – beides in dem sozialistischen Staat mit Planwirtschaft kaum zu bekommen. „Den Kaffee habe ich einer älteren Dame geschenkt. Sie hat vor Freude geweint.“ Die Strümpfe habe sie den Zimmermädchen im Hotel gegeben.

Der Trierische Volksfreund berichtete 1989 von der Reise und sprach nach ihrer Rückkehr mit vier Teilnehmern, das Ehepaar Meyer war nicht darunter. Ein Trierer berichtete damals: „Wir haben den Kontrast erlebt zwischen der einstigen großen Kultur und der Realität in der DDR.“ Der ehemalige Leiter der Kreisvolkshochschule, Hans Piwecki, drückte seine Beklemmung so aus: „Auf den Straßen wurde für Freiheit demonstriert, während wir kunstgenießend im Leipziger Gewandhaus saßen.“ Doch auch mit diesem Protest kamen die Reisenden direkt in Kontakt. Sie seien unfreiwillig „Zeugen eines leidenschaftlichen Streitens für Freiheit und Demokratie gewesen“, formulierte es damals der TV. Denn am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, wurde in Leipzig rund um die Nikolaikirche demonstriert. Und das Ehepaar Meyer und seine Mitreisenden waren mittendrin.

„Wir haben mitgerufen: Keine Gewalt! Wir sind das Volk“, erinnert sich Renate Meyer. Es habe Straßensperren gegeben: Eine Straße sei mit einem Lastwagen versperrt gewesen, auf eine andere sei ein Kohlehaufen gekippt worden. Dennoch hätten sich immer mehr Leute gesammelt – „Tausende“, heißt es in ihren Notizen. Zwei „Vopos“, DDR-Volkspolizisten, hätten sie nicht durchlassen und ihrem Mann die Kamera abnehmen wollen. Weil die jungen Männer aber selbst unsicher gewesen seien, konnten sie die Kamera doch behalten. „Aber wir haben leider nur wenige Aufnahmen von der Demo.“ Diese hätten im Nachhinein dokumentarischen Wert, denn Journalisten aus dem westlichen Ausland durften damals nicht über die Geschehnisse berichten. Ein Mann habe während der Demo zu ihnen gesagt: „Nicht die Vopos sind die Schlimmen, sondern die in den Hauseingängen, die in Zivil, das ist die Stasi.“

 I n Leipzig erlebt das Paar eine Demonstration gegen das Regime mit. Ihnen gelingt diese Aufnahme von in der Menge patrouillierenden Volkspolizisten.

I n Leipzig erlebt das Paar eine Demonstration gegen das Regime mit. Ihnen gelingt diese Aufnahme von in der Menge patrouillierenden Volkspolizisten.

Foto: Renate Meyer
  Typisches Bild für die damalige Zeit: Trabbis. Die Trierer Reisegruppe besichtigte elf Städte in der DDR und deren berühmteste Kulturdenkmäler.

Typisches Bild für die damalige Zeit: Trabbis. Die Trierer Reisegruppe besichtigte elf Städte in der DDR und deren berühmteste Kulturdenkmäler.

Foto: Renate Meyer
 Der Trierische Volksfreund berichtet 1989 über Erlebnisse der Reisegruppe, die damals vom 3. bis 10. Oktober die DDR besuchte und die Stimmung dort kurz vor der Wende miterlebte.

Der Trierische Volksfreund berichtet 1989 über Erlebnisse der Reisegruppe, die damals vom 3. bis 10. Oktober die DDR besuchte und die Stimmung dort kurz vor der Wende miterlebte.

Foto: Trierischer Volksfreund/Christa Weber
 Mit 30 Männern und Frauen aus der Region Trier sind Renate Meyer und ihr inzwischen verstorbener Mann 1989 durch die DDR gereist.

Mit 30 Männern und Frauen aus der Region Trier sind Renate Meyer und ihr inzwischen verstorbener Mann 1989 durch die DDR gereist.

Foto: Renate Meyer

Am 10. Oktober ging es zurück über die Grenze, an der die Zöllner nicht mal mehr die Pässe der Gruppe sehen wollten. Sie hätten sie einfach durchgewunken, gegrüßt – und sogar gelächelt, erinnert sich Meyer. Bei der Einreise wenige Tage zuvor war ihr Bus noch scharf kontrolliert worden. „Ein Wunder war geschehen und alles ohne einen Schuss“, enden Meyers Aufzeichnungen. Heute sagt sie: „Ich werde das wohl nie vergessen.“

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