Die Frau, die bei Elternabenden draufzahlt

Konz · Gehörlose stoßen tagtäglich auf Hindernisse. Stefanie Reichert aus Konz erläutert, wie schwierig es ist, einen Gebärdensprachendolmetscher für Elternabende zu bekommen. Sie kritisiert, dass sie jedes Mal selbst draufzahlen muss, obwohl das Land eigentlich für Dolmetscher bei Schulveranstaltungen aufkommt.

Konz. Stefanie Reichert sitzt im freundlich eingerichteten Wohnzimmer ihres Hauses in Konz. Als es an der Tür klingelt, leuchtet zugleich ein Licht auf. Nur deswegen bekommt die 40-Jährige mit, dass es geläutet hat. Sie ist gehörlos. Um mit anderen Menschen zu kommunizieren, benutzt sie die Gebärdensprache. Ihre beiden Töchter, Anne (9) und Lisa (12), empfinden das als total normal. Sie haben die Gesten von klein auf gelernt.
Wenn ihr Gegenüber die Gebärdensprache nicht beherrscht, braucht Reichert einen Dolmetscher. Meistens ist jedoch keiner dabei: Sie könne weder an Stadtratssitzungen noch an Bürgersprechstunden teilnehmen - sie habe quasi keinen Zugang zum öffentlichen Leben, beklagt sie.

Das Problem: Eine Sache stört sie besonders. Kürzlich hat sie 15 Absagen bekommen, bevor sie eine Dolmetscherin für einen Elternabend am Konzer Gymnasium gefunden hat. Solche Veranstaltungen verlangen ihr nicht nur einen großen Organisationsaufwand ab. Die Arbeit nimmt sie in Kauf. Viel schlimmer ist es für sie, dass sie für die Teilnahme sogar draufzahlen muss.
Es gibt zwar eine Förderrichtlinie (siehe Extra), aber das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung (LSJV) trägt die Kosten für Dolmetscher nicht in voller Höhe. Obwohl die Stundensätze von staatlich geprüften Gebärdensprachendolmetschern bei 55 Euro liegen, überweist das Landesamt höchstens 50 Euro pro Stunde. Im Fall Reichert waren es einmal zunächst sogar nur 35 Euro. 119 Euro sollte die Konzerin selbst tragen. Erst nachdem sie beim Amt Widerspruch eingelegt hatte, bekam sie 15 Euro zurückbezahlt. Den Rest musste sie selbst tragen. So bleiben nach jedem Elternabend Kosten an Familie Reichert hängen. "Das ist Diskriminierung", schreibt die 40-Jährige an den TV. Gerade angesichts der UN-Behindertenrechtskonvention halte sie das Vorgehen für ungerecht.
Alle gehörlosen Eltern zahlen: Barbara Reike ist im November extra aus Königswinter angereist, um für Stefanie Reichert bei einem Elternabend zu übersetzen. Sie bestätigt, dass die Dolmetschersuche oft sehr schwierig ist. "Und es ist jedes Mal ein Hickhack", sagt Reike. Ihre Kundinnen müssen jeweils ein dreiseitiges Formular für das LSJV ausfüllen. Und das Land Rheinland-Pfalz übernehme die Kosten niemals vollständig.
Stefanie Reichert steht nicht allein da. Gespräche mit anderen Gebärdensprachendolmetschern bestätigen, dass es sich um ein allgemeines Problem handelt. Gehörlose Eltern tragen die Kosten für Dolmetscher auf Elternabendenden anteilig mit.
"Es hat sich bisher nur keiner getraut, etwas zu unternehmen", sagt eine Dolmetscherin im TV-Gespräch.

Landesamt hält Förderung für kostendeckend: Beim Landessozialamt beantwortet Pressesprecher Matthias Bolch eine TV-Anfrage. Es handele sich um eine freiwillige Leistung des Landes, die in einer Förderrichtlinie geregelt sei.
Die fünf Euro Differenz zwischen der Höchstförderung und den Stundensätzen der Dolmetscher blendet Bolch aus: "Wir gehen davon aus, dass diese Förderung im Allgemeinen kostendeckend ist." Das Land übernehme auch die Fahrtkosten für die Dolmetscher. Vergleichbare Förderungen gebe es nicht in allen Bundesländern. 2013 werde die Förderrichtlinie aktualisiert. Einzelheiten will Bolch noch nicht bekanntgeben.
Einen generellen Mangel an Gebärdensprachendolmetschern gebe es nicht. In den langen Anfahrtsstrecken, die Dolmetscher teilweise in Kauf nehmen, sieht Bolch kein Indiz. Wie das Land künftig Gehörlose besser unterstützen wolle? "Mit der Förderung der Dolmetscherzentralen in den Regionen Trier, Neuwied und Frankenthal leistet Rheinland-Pfalz einen wichtigen Beitrag, um gehörlosen Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen", antwortet Bolch.

Frustrierendes Fazit: Wie gut diese Teilhabe funktioniert, beantwortet Reichert als Betroffene: "Es geht hier um eine Barriere in meinem persönlichen Leben, aber dem Landesamt geht es nur um Verwaltung, nicht um das Wohl der Behinderten."Meinung

Das ist nicht genug
Es ist schön, dass das Land Rheinland-Pfalz gehörlosen Eltern die aktive Teilhabe an Elternabenden ermöglichen will. Allerdings ist die Förderung nicht hoch genug. Die Stundensätze der Gebärdensprachendolmetscher liegen über dem Fördersatz des Landes. So erfüllt das Land seine Verantwortung nur teilweise. Wer unterschreibt, dass er Behinderten die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen will, muss konsequent den nächsten Schritt machen. Den hat das Land noch nicht vollzogen. Denn gerade Gehörlose bleiben von weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen. Vielleicht auch, weil ihre Behinderung nicht so offensichtlich ist, wie die eines Querschnittsgelähmten im Rollstuhl. Die Gehörlosigkeit sieht man dem Betroffenen nicht an. Deswegen wird ihre Behinderung nicht auf den ersten Blick wahrgenommen. Was bisher für Gehörlose gemacht wurde, ist jedenfalls noch nicht genug. c.kremer@volksfreund.deExtra

 Die gehörlose Mutter Sabine Reichert sagt in Gebärensprache, was sie von der Behindertenförderung des Landes hält: "Ich ..."

Die gehörlose Mutter Sabine Reichert sagt in Gebärensprache, was sie von der Behindertenförderung des Landes hält: "Ich ..."

Foto: Friedemann Vetter

Laut dem statistischen Landesamt gelten in Rheinland-Pfalz insgesamt 320 429 Menschen als schwerbehindert. Von ihnen leiden 12 589 an Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Sprach- oder Sprechstörungen sowie Gleichgewichtsstörungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Deutschland 2009 in Kraft getreten. Mit der Unterschrift verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur Durchsetzung der Menschen- und Selbstbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderungen und zur Förderung ihrer Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das Land Rheinland-Pfalz hat 2010 als erstes Bundesland einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention verabschiedet. Im vergangenen Juli haben Vertreter des Landesverbandes für Gehörlose einen Maßnahmenkatalog im Mainzer Sozialministerium eingereicht, der den Aktionsplan aus Sicht der Gehörlosen ergänzt. In der Förderrichtlinie zur Unterstützung der Teilhabe hör- oder sprachbehinderter Eltern und Sorgeberechtigter an schulischen Veranstaltungen ist das Verfahren zur Förderung der Gebärdensprachendolmetscher geregelt. Grundsätzlich ist jeder Elternteil oder jeder Sorgeberechtige förderfähig, der laut Sozialgesetzbuch (Paragraf 69) wegen einer Hör- oder Sprachbehinderung als schwerbehindert gilt. "Die Unterstützung wird in Form der Erstattung von Kosten für eine stundenweise/halbstundenweise Tätigkeit von Gebärdensprachdolmetschern gewährt", heißt es in der Förderrichtlinie. Die Höhe des Fördersatzes ist in einem Anhang zur Richtlinie geregelt. cmk

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