100 Minuten Rilke aus dem Gedächtnis

Beeindruckender Kraftakt für Darsteller und Zuschauer: Die Schauspieler Franziska Walser und Edgar Selge haben Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" im Théâtre National du Luxembourg auswendig rezitiert.

Luxemburg. (ves) 100 Minuten Stillsitzen. Nein, nicht so wie im Kino, wenn man während des Films mit seinem Sitznachbarn flüstert und Popcorn isst. Auch nicht so wie bei einem Vortrag, der Gelegenheit bietet, mal die Sitzposition zu verändern oder sich zu räuspern. Sondern ganz still - aus Respekt vor der Gedächtnisleistung der Darsteller.

Das bekannte Schauspieler-Ehepaar Franziska Walser und Edgar Selge machte dieses Experiment am Dienstagabend im Théâtre National du Luxembourg (TNL): Rainer Maria Rilkes (1875-1926) bedeutendstes Spätwerk, die "Duineser Elegien" (1911-1923). Sie hat sich durch die Münchner Kammerspiele einen Namen gemacht, er als einarmiger Kommissar Tauber aus dem BR-"Polizeiruf 110". Unter dem Titel "Jeder Engel ist schrecklich" rezitierten die 57-Jährige und der 61-Jährige abwechselnd die philosophisch-lyrischen Verse der zehn Elegien Rilkes. Und das alles komplett auswendig: eine enorme Gedächtnisleistung und eine wahre Mutprobe - nicht nur für die erfahrenen Theater- und Fernsehschauspieler Walser und Selge, sondern auch für die rund 100 Zuschauer im Théâtre.

"Vor den Zuschauern, den unzähligen lautlosen Toten": Denn in der kargen Studioatmosphäre des TNL muss es für diese Konzentrationsleistung absolut still sein. Zwar geht es in Rilkes Texten auch um das Streben nach Freiheit - dies steht aber am Dienstagabend im Gegensatz zu einer gewissen Gefangenheit der Zuschauer.

So wirken die kurzen Räusperpausen zwischen den Elegien fast wie eine Erlösung. Da husten auch jene, die sonst wohl den ganzen Abend nicht hätten husten müssen - ermuntert von den beiden Darstellern. Sicher aus der Erfahrung heraus, dass das Publikum sonst während des Vortrags unruhig wird.

"Wenn von der Bühne das Leere herkommt": Im Gegenteil - diese Verse sind so voller Bedeutung, dass es unmöglich ist, sie beim ersten Hören zu begreifen. Doch schnell wird dem Zuschauer klar, dass die beiden Schauspieler sich intensiv mit den Texten beschäftigt haben. Verse über die freien Räume, in denen Engel und Tote die Sehnsucht wachrufen nach dem, was uns Menschen fehlt, und über die Kunst, die das Schreckliche zu verwandeln vermag.

Diese tragen Walser und Selge ruhig stehend vor, mit nur wenig Gestik und Mimik versehen. Jegliche Bedeutung transportieren sie über ihre Stimme. Bei Selge klingt es teilweise so, als dächte er die Gedanken zum allerersten Mal genau in diesem Moment, als wäre er im Schaffens- und Denkprozess Rilkes.

"Und wir? Zuschauer. Immer. Überall." Rilke wollte seine poetische Sprache in Kontrast zu den Entfremdungserfahrungen des modernen Menschen durch Technik, Rationalität und Geld setzen. Und das passt auch heute noch. Wer kann schon 100 Minuten konzentriert solchen tiefgründigen Monologen zuhören? Es ist ein Kraftakt für beide Seiten, der am Ende mit gegenseitigem Applaus belohnt wird. Ein spannendes Experiment.

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