Abendstimmung am roten Dom

TRIER. (Fast) alle Jahre wieder: Österreichs langlebigster Chansonnier machte im Rahmen seiner Sommertournee auch in Trier Station. Tausende waren auf den Domfreihof gekommen, um Udo Jürgens zu erleben.

Die Frauen sind, wie immer, in der Überzahl, wenn er auftritt. Und die Herren im Schlepptau ihrer besseren Hälften oder was auch immer sind überwiegend und teils deutlich jünger als der Star auf der Bühne. Dennoch gilt offenbar für die weiblichen Fans nicht länger die Bauernregel, derzufolge zwei 35-Jährige allemal besser sind als ein 70-Jähriger. Die Herren zu Füßen des Sängers und an der Seite der Gattin geben sich denn auch alle Mühe, um sich wenigstens hin und wieder in Erinnerung zu bringen: greifen Händchen, streicheln Nacken, legen Arme um Taillen. (Obwohl das angesichts der engen Bestuhlung kaum nötig war - Körperkontakt, egal mit wem, war nahezu unvermeidlich.) Und manchmal, oh Wunder, löst die Dame den Blick von dem Herrn auf der Bühne und wirft ihrem Mitbringsel ein beruhigendes Lächeln zu.Die Antwort auf Herbert Grönemeyer

Solche Reaktionen löst derzeit nur ein Sänger im 50plus-Publikum aus: Udo Jürgens natürlich. Mit seinem neuen Programm machte er auf seiner Sommertournee "Udo singt Jürgens" auch in Trier Station, wieder, wie schon vor drei Jahren, auf dem Domfreihof, und wieder (fast) allein mit seinem Flügel, der diesmal allerdings nicht show-plexigläsern, sondern in seriös-hochglanzpoliertem Konzertsaalschwarz gehalten war. Und wieder wurde das Konzert vom Trierischen Volksfreund präsentiert. Zur Beruhigung erstmal vorweg: Diese Stimme ist nach wie vor beeindruckend. Warm, volltönend, auch jederzeit einsatzsicher (na ja, vielleicht in den Höhen nicht mehr so sehr, da hilft auch die Rettung ins Falsett nicht wirklich) für zweieinhalb Stunden am Stück, inklusive Pause. Viel Frisches hatte er im Gepäck, Lieder von seiner neuen CD, die derzeit in einem Berliner Studio entsteht. Vielleicht ein bisschen zu viel Neues für einen ersten Teil, denn der Funke wollte nicht so recht zünden. Obwohl Jürgens, charmant und locker, sofort den Kontakt zum Publikum suchte, obwohl die Lieder, zwischen witzig und wehmütig, durchaus das Zeug dazu haben, in den Evergreen-Kanon einzugehen - etwa das biografisch gefärbte Lied "Der Mann mit dem Fagott". Das ist übrigens auch der Titel von Jürgens‘ Autobiografie und dem Film, der demnächst danach gedreht wird - vermutlich das erste musikalische "Biopic" deutscher Machart. Fast Schwermütigem wie "Bis ans Ende meiner Lieder" steht das verschmitzte "Frauen" gegenüber, quasi das im Geiste der Grönemeyerschen "Männer" komponierte Gegenstück. Vielleicht erreichen diese Neuschöpfungen ja auch einmal den Ohrwurm-Olymp wie "Griechischer Wein" oder "Merci, Chérie". Aber das werden wir frühestens in zehn Jahren wissen, also brauchen wir uns jetzt keine Gedanken darüber zu machen. Worüber wir uns allerdings Gedanken machen, ist die Tatsache, dass Udo Jürgens an diesem lauen Sommerabend, für den sogar der Dom wahlweise in Grün, Blau, Rot und Gelb getaucht wurde, etwas fahrig und unkonzentriert wirkte. Da verlor er den Textfaden ("Warum musste ich nur so viele Lieder schreiben?" rettete er sich in Selbstfrotzeleien) und fand den Anschluss an den nächsten Vers nicht mehr; da verhaute er sich mehr als einmal auf der Tastatur (wobei er sich, ganz Profi, mit ein paar Brückenakkorden geschickt in die nächste Nummer hineinimprovisierte). Und so senkte sich auf einmal, horribile dictu, auch eine andere Art von Abendstimmung über den Domfreihof. Wenigstens bei den älteren Songs kam ihm das Publikum gern zu Hilfe, stimmte wort- und melodiesicher ein und bestritt weite Teile des Abends ganz ohne Gage. Begeisterungsstürme für den Gitarristen

Ganz allein war der Sänger natürlich nicht gekommen. Zu seiner Unterstützung hatte er den französischen Gitarristen Francis Coletta mitgebracht, dem dank fulminanter Riffs und Soli und improvisatorischen Alleingängen Begeisterungsstürme ins Gesicht wehten. Was Wunder, dass das Zusammenspiel der beiden Künstler einwandfrei funktionierte: Sie lernten einander vor fünfzehn Jahren beim Orchester Pepe Lienhard kennen. Mit dem wird Udo Jürgens übrigens nächstes Jahr erneut auf Tournee gehen. Vielleicht ist er dann wieder in Topform, wenn ihm ein paar Leute ein musikalisches Rückgrat geben. Zu wünschen wär‘s ihm. Künstler seines Kalibers gibt‘s nicht allzu viele. Vor allem die Damen wissen ein Lied davon zu singen.

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