Abgrenzung von der Abgrenzung

Trier · "Straight Edge" ist eine Jugendkultur, die einen kompletten Verzicht auf Alkohol, Drogen und Tabak postuliert. Doch viele frühere Mitglieder wollen nicht mehr zur Szene gehören, sobald ihre Jugendjahre vorbei sind.

 Michael Kirchner (links) und Marc Pierschel diskutieren in Trier über die Subkultur „Straight Edge". 2007 haben sie in Amerika einen Dokumentarfilm über die Anfänge der Szene gedreht. TV-Foto: Kim-Björn Becker

Michael Kirchner (links) und Marc Pierschel diskutieren in Trier über die Subkultur „Straight Edge". 2007 haben sie in Amerika einen Dokumentarfilm über die Anfänge der Szene gedreht. TV-Foto: Kim-Björn Becker

Trier. Wenn Jugendliche vor ihren Freunden sagen, dass sie nicht rauchen, keinen Alkohol trinken und schon gar keine Drogen nehmen möchten, dann gelten sie entweder als Langweiler oder als Angeber. Der Angeber sagt diesen Satz, weil er damit provoziert; der Langweiler, weil er ihn so meint, mit allen Folgen: Denn mit dem Zeitpunkt seiner Abstinenz-Ankündigung wird er zum Außenseiter. Spaß haben, mit dem? Unmöglich.
Doch es gibt einen dritten Weg, eine eigene Gruppe, deren Anhänger ähnlich über Alkohol und Drogen denken wie der Langweiler. Nur langweilig sein, das sollen sie auf keinen Fall. "Straight Edge" nennt sich die Bewegung, was so viel bedeutet wie "klare Kante".
In den 80er Jahren entwickelte sich die Straight-Edge-Szene in Amerika aus der von Drogen dominierten Punkrockszene. Nicht alle, die damals Punkrock hörten, wollten dem Motto der Szene folgen, das besagte: Lebe schnell und stirb früh. Straight-Edger wollen auch schnell leben, aber doch bitte etwas länger.
Für diese Jugendlichen bleibt es auch nicht beim Verzicht auf Drogen, Alkohol und Tabak. Für sie steht ein weiter gefasstes Lebenskonzept dahinter; Sex außerhalb einer festen Beziehung kommt für sie beispielsweise auch nicht infrage.
Irgendwann in den mittleren 80er Jahren schwappte die Jugend-Subkultur über den Atlantik nach Europa. In den 90ern erreichte die gleichzeitig verlaufende Politisierung der Bewegung einen vorläufigen Höhepunkt, als sich Themen wie der Vegetarismus und die Tierrechtsbewegung mit Straight Edge zu einem Lebensmodell verbanden, dessen sprichwörtlich klare Kante unter den vielen Einzelelementen immer schwerer herauslesbar wurde.
Die Anhänger von Straight Edge in Deutschland sind bis heute rar gesät, sie machen nur einen Bruchteil derer aus, die zur deutlich größeren Hardcore-Punkszene gehören. In Trier und Umgebung gebe es beispielsweise keine nennenswerte Straight Edge-Szene, sagt Tim Thielen, der schon mehrere Hardcore-Festivals veranstaltet hat, zuletzt das "Summerblast"-Festival im Trierer Exhaus. Eine nennenswerte Szene bilde sich nur in den Großstädten.
Dokumentation über die Anfänge


Michael Kirchner, Anfang 30, war früher auch mal "Straight Edge". Heute würde er sich nicht mehr so bezeichnen. "Über Musik und Freunde bin ich dazugekommen", erinnert er sich. Er sitzt zusammen mit seinem Kollegen Marc Pierschel, mit dem er einen Dokumentarfilm über die Anfänge der Bewegung in Amerika gedreht hat, und weiteren Kennern der Szene im Balkensaal des Trierer Exhauses. Vor ein paar Dutzend Hardcore-Anhängern spricht er darüber, was Straight Edge eigentlich ist. Oder besser: Was es für ihn einmal war. "Ich wollte meine Ideen damals unbedingt nach außen tragen", sagt er. Aber heute sei das nicht mehr so. Marc Pierschel stimmt ihm zu. "Es ging anfangs um Selbstbestätigung, man baut sich ein eigenes soziales Umfeld auf. Mit dem Alter wird man dann ruhiger", sagt er. Ruhiger, das heißt: kein aktiver Teil der Szene mehr.
Obwohl beide nach eigenem Bekunden nach wie vor nach den Idealen der Bewegung leben, wollen sie das "Label" nicht mehr demonstrativ vor sich hertragen. Ähnliches sagen auch jene Vorreiter der Szene, die die Dokumentarfilmer für ihr Projekt interviewt haben. Ian MacKaye zum Beispiel, der Sänger der inzwischen aufgelösten Band Minor Threat, der den Begriff "Straight Edge" prägte. Oder Ray Cappo von der Band Youth of Today, der die Szene ebenso sehr beeinflusste.
Sind die Jugendjahre vorbei, wird die Schublade bald überflüssig. Das ist bei den meisten Szenen so, und Straight Edge ist keine Ausnahme. Denn beide Phasen, sowohl der Eintritt als auch der Ausstieg aus der Subkultur, zeigen, worum es bei Straight Edge geht: Identitätsbildung, und zwar mit Hilfe von Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung. Abgrenzung diesmal durch Verzicht - nachdem die Abgrenzung durch Exzess von anderen Gruppen bereits seit Jahren erfolgreich praktiziert wird.

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